Mora Mora

Herzlichen Dank an unseren Gast Nils Schlimmer, der uns erlaubte den Bericht ĂŒber seine Madagskarreise hier zu veröffentlichen

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Mora mora

„Mora mora“ bedeutet in Malagasy so viel wie „doucement“, eben: „nicht‘ aufregen, Bruder“. So sitze ich zum Beispiel gerade an der WestkĂŒste der kleinen Insel Tsarabanjina im Indischen Ozean und sehe einem jungen Mann zu, der eine Wand weißelt. An sich nichts dabei, allerdings beschrĂ€nkt sich diese nahezu liebkosende BedĂ€chtigkeit in der letzten Stunde auf geschĂ€tzte zwei Quadratmeter  Putz. Die Nacht wird beide einholen und die letzte spĂ€rliche Reflexion des blendenden Weiß verschlucken – und wenn schon. Auch morgen wird es WĂ€nde, Sonne und weitere zwei Quadratmeter Wand geben – mora mora, Mann!

Etwas passende Musik:

Im modernen Gesundheitswesen heißt mora „StĂŒckzeitakkord“, auch wenn es keiner zugibt. Mit einem regelmĂ€ĂŸigen Feierabend zumindest sollte man sich schon deshalb nicht anfreunden und so gerĂ€t unsere Urlaubsvorbereitung in der Regel zu einem allabendlichen hinterlistigen Beißen und Stechen zwischen sĂ€mtlichen Freud‘schen Instanzen und dem bereits in Ă€lteren Reiseberichten hinlĂ€nglich umrissenen Morpheus.

Auch dieses Mal ist es nicht anders. PĂŒnktlich zur dunkelsten Jahreszeit erreicht uns der Katalog der â€žTrauminsel Reisen“, eine Vanilleschote als kleine zusĂ€tzliche Motivation anbei. Da mĂŒssen wir natĂŒrlich hin. Aber wo ist dieses „da“? Wo ist der Ort, der hĂ€lt, was eine sĂŒĂŸe Ahnung verspricht, die sich nun vollkommen unkonkret aber pochend in den Frontallappen gepflanzt hat?

Über die Jahre haben wir ein ausgesprochen romantisches System der Urlaubszielfindung erarbeitet, welches auf tiefem gegenseitigem VerstĂ€ndnis, unablĂ€ssiger Kommunikation und dem Miteinander (der Seele einer Ehe) beruht. Diese anthroposophische Sternstunde spielt sich dergestalt ab, dass meine Frau – wenn sie mal zu Hause ist – rosa Post-its an ihre Wunschziele im Katalog anbringt und ich – wenn ich denn mal zu Hause bin – grĂŒne. Dort, wo die Klebchen sich treffen, wird hingefahren ohne zu motzen – Schluss, aus, Ende.

TatsĂ€chlich finden ein grĂŒnes und ein rosa Post-it ein Stelldichein auf dem Mutterland der Vanilleschote – als hĂ€tten sie’s gewusst. Wir fahren dorthin, wo der Pfeffer wĂ€chst: nach Madagaskar. Genauer gesagt haben wir uns fĂŒr Nosy Tsarabanjina entschieden, ein Name wie eine Beschwörung aus einer fremden Welt. Auf Malagasy sagt er alles: „Nosy“ steht fĂŒr Insel (im Mitsio-Archipel an der NordostkĂŒste), „tsara“ bedeutet „schön“ und „banjina“ so etwas wie „Aussicht“.

Weniger schön erscheint uns die Aussicht, aus dem deutschen Februar anreisend, wieder ein Formvorderschinkendisplay Ă  la Seychelloise abzugeben, bevor uns die ersten tropischen Sonnenstrahlen erneut in einen Römertopf verwandeln. Wir tragen uns mit dem Gedanken, ein Sonnenstudio zu besuchen und lesen im Dermatologenfachblatt „Fit-For-Fun“, dass das wohl nichts bringt, da die UVB-Bank offenbar nur den bereits vorhandenen Melanozyten die Pistole auf die Brust setzt und ihnen ihr im deutschen Winter bitter angespartes Melanin auspresst, wĂ€hrend eine Proliferation der Oberhaut offensichtlich ausbleibt. Die „Fit-For-Fun“-Expertin Dr. Axt-Gadermann (im Nebenberuf Dr. Sommer) weist zwar auf Studios hin, die eine „echte BrĂ€une“ lieferten, rĂ€t aber von diesen wegen des Hautkrebsrisikos ab. Also doch Römertopf? Nein, auch dafĂŒr ist laut Expertenrat eine Lösung gebacken: Karottensaft! In der Tat. Schon ab grob geschĂ€tzten fĂŒnf Kubik beginnt die Farbstoffeinlagerung in Haut und Skleren, was dann definitiv vor Sonnenbrand schĂŒtzt – ein Kaninchen mit Sonnenbrand ist mir auch tatsĂ€chlich nie untergekommen. Zur Vermeidung jeglicher Insolation schließen wir uns daher ab Ende Januar im Keller ein und ernĂ€hren uns ausschließlich von Karottensaft, bis wir den PrimĂ€raspekt Twilightsaga erreicht haben. Gut, der Postbote und der Pizzalieferant haben jetzt Angst vor uns aber wie schön es doch ist, gefĂŒrchtet zu werden. Als uns immer mehr Kollegen raten, doch einmal unsere Leberwerte checken zu lassen, brechen wir das Experiment schließlich ab und stellen uns bei einem Sonnenstudio vor. Wir verwirren die freundliche Aushilfskraft mit Schilderungen vom Axt-Gadermann‘schen Twilight-Kaninchen ohne Sonnenbrand und finden ĂŒber ein elaboriertes multiple-choice-System heraus, Hauttyp 3 von 4 zu besitzen. Doch damit nicht genug. Kaum eine Woche spĂ€ter empfĂ€ngt uns im nĂ€chsten Studio derselben Kette eine junge Dame, von der ich zunĂ€chst annehme, sie trĂŒge eine Ganzkörperledermontur, bevor mir bei nĂ€herer Betrachtung klar wird, dass es sich hier um die vielbeschiene proliferierte Oberhaut handelt… Nun scheint die Sonne in diesem Studio sehr intensiv zu wirken und auch die SchĂ€deldecke zu durchdringen, anders kann ich mir die im Folgenden unverfĂ€lscht wiedergegebene Konversation nicht einmal ansatzweise erklĂ€ren:

–  Seid ihr no-hoi?

–  Nein, wir waren schon mal da, aber im Nachbarort.

–  Aber hier no-hoi? Dann mĂŒsst ihr das hier ausfĂŒllen.

–  Das haben wir schon, wir haben Hauttyp 3. (… auf einer Skala, die mit Ihnen – 10 – abschließt)

–  Woher wisst ihr das?

–  Wir waren schon mal da, aber im Nachbarort.

–  Aber hier noch nicht?

–  Nein, aber genau das haben wir ausgefĂŒllt. Wir haben Hauttyp 3.

–  Könnt ihr das dann bitte ausfĂŒllen…

–  Wir… ach, scheiß drauf.

Wir machen beide einen Kringel um die zartocker grundierte 3. Nach eingehender PrĂŒfung unserer Bögen blickt sie uns erst einmal wortlos an.

–  Woher wisst ihr das?

–  Äh, genau das haben wir schon einmal ausgefĂŒllt. Wir haben Hauttyp 3.

Wort- und gedankenlos faltet sie meinen Bogen um sich dem meiner Frau zu widmen.

–  Auch drei?

–  Mmh, 3. Haut – Typ – Drei. Drei. Welche Sonnenbank nimmt man denn da?

–  Die sind alle frei… Außer die sieben, die ist belegt.

–  Und welche empfehlen Sie?

–  Ja, also die sieben nicht, die ist belegt.

–  Ach was. Ich meine, fĂŒr mittlere BrĂ€une…

–  Das hĂ€ngt vom Hauttyp ab.

–  Drei.

–  Du auch?

–  Ja, auch drei. (…zum Geier noch eins)

–  Da könnt ihr eigentlich alle nehmen. Außer der sieben…

–  Die ist belegt.

–  Ja, stimmt.

–  Dann nehm‘ ich die fĂŒnf.

–  Die iss aber boost.

–  Das heißt?

–  Die is‘ stĂ€rker.

–  Also lieber nicht?

–  HĂ€ngt vom Hauttyp ab.

–  Drei.

–  Du auch?

–  Ja, Herrgott!

–  Dann geben Sie mir die vier.

–  Da muss man den Hauttyp einstellen.

–  Drei.

–  Weiß ich doch. Und Du?

–  Ich nehm‘ dann die sieben.

–  Die ist belegt.

Letztlich kann nicht einmal die fachgerechte Beratung verhindern, dass unsere betacarotingeschwĂ€ngerte Haut nun auch noch erstgradig verbrannt aussieht – und wieder kommen Zweifel hinsichtlich unseres Gesundheitszustandes auf. „Mann seht ihr scheiße aus.“ „Entweder das oder Fit-For-Fun-bunny im Römertopf!“ „Du hast doch auch n‘ mega Sockenschuss!“ „Was soll ich sagen, ein Leben mit Hauttyp 3 ist kein Zuckerschlecken…“

Bis auf die erwĂ€hnten kleinen Unannehmlichkeiten verlĂ€uft die weitere Planung dann problemlos, abgesehen von der Frage der Malariaprophylaxe, die wir lange hin und her wĂ€lzen, bis wir genug Erfahrungsberichte beisammen haben, die von unangenehmen krankheitsĂ€hnlichen ZustĂ€nden durch die Prophylaxe selbst handeln, weshalb wir uns fĂŒr die Mitnahme von Stand-by-Medikamenten entscheiden. Als einzige prophylaktische Maßnahme ziehen wir uns auf die Überschwemmung unseres Interstitialraumes mit Gin Tonic zurĂŒck, den wir uns ehrlich teilen: Ich den Gin, meine Frau das Tonic.

Nach gut einer Woche ist dann alles fĂŒr den Abflug bereit, vieles davon sogar bereits im Koffer, höchste Zeit, denn morgens geht es los. Unauffindbar ist nur das einzige GepĂ€ckstĂŒck, das den Abflug aller anderen, inklusive uns zu verhindern vermag: der Reisepass. Die Reisepassecke meiner Frau befindet sich rechtsobenhinten in der oberen Schreibtischschublade und dort ist er nicht. Eine unterschwellige, dann schwellige und schließlich superschwellige Panik breitet sich aus. Mit dem Personalausweis werden die Afrikaner wohl nicht zufrieden sein, schließlich brauchen wir ein Visum. Wie wir noch erfahren, hĂ€tte sich das wohl alles finanziell regeln lassen, aber dazu spĂ€ter mehr.

Realistisch haben wir jetzt, um 21 Uhr, etwa zwölf Stunden fĂŒr die IdentitĂ€tssuche und Selbstfindung, bis die ganze Reise ausfĂ€llt. Wir krempeln also das Zimmer um, doch der Pass bleibt verschollen. Das freundliche Angebot ihres Vaters, sie möchte doch seinen Pass mitnehmen, da er ihn momentan nicht brauche, löst bei meiner Frau nicht die erhoffte RĂŒckkehr zur Leichtigkeit aus, eher ein genervtes Grummeln. Am Ende unserer Suche kehren wir zu deren AnfĂ€ngen zurĂŒck und hypothetisieren, dass es die IKEA-Bauweise durchaus zulĂ€sst, dass Objekte innerhalb des Möbels verlustig gehen. Nach der Entnahme der Schublade liegt er vor uns, der abtrĂŒnnige Kamerad, ohne den keiner von uns gereist wĂ€re. Ich nehme ihn in die Hand und mustere ihn: „Der ist abgelaufen.“ Als ich die entgeisterte Reaktion meiner Frau registriere, löse ich schnell auf: „Neeh, war nur Spaß!“. Irgendwie ist ihr so gar nicht zum Scherzen zumute und ich vermeide den Rest des Abends originelle Bemerkungen, denn ich weiß, was gut fĂŒr mich ist.

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Abfluch

Es liegt Schnee, dennoch kommen wir rechtzeitig bei der Autoaufsicht am Flughafen an. Tor sieben wird uns eingeblÀut, da sollen wir in zwei Wochen wieder sein. Ich frage mich, ob die sieben immer noch belegt ist, verwerfe den Gedanken aber wieder.

Bei stĂŒrmischem Wetter geht es zuerst mal etwas holprig von Frankfurt nach Paris Charles-de-Gaulle, zu unserer Freude auf der Anzeigetafel als „Charles-de-Gueule“ ausgewiesen. Wir handeln mit der ĂŒberforderten Dame am Schalter, die keine Möglichkeit sieht, unser GepĂ€ck von Frankfurt nach Paris und von dort nach La RĂ©union zu leiten, aus, sie möchte unser GepĂ€ck nur nach Paris schicken, wir wĂŒrden es dort wieder abholen. Zu diesem Zeitpunkt scheint ein verlorener Koffer der grĂ¶ĂŸtmögliche Gau.

Am Charles-de-Gaulle Flughafen erfreuen wir uns an der James-Bond-Siebzigerjahre-Architektur, holen unsere Koffer ab und wundern uns, das alles so glatt lĂ€uft wie Chers neues Gesicht. Unserem Nachtflug nach La RĂ©union steht also nichts mehr im Weg. Wir boarden vom hinterletzten Gate des Terminal 2c und verbringen erst einmal ĂŒber eine Stunde in Reihe 22 der Air Austral Maschine, bevor uns die Sache komisch vorkommt. Der vertrauenserdrĂŒckenden Durchsage, es stĂŒnde noch ein Technikcheck aus, folgt die Ansage des KapitĂ€ns: „Due to technical difficulties, we are unable to perform this flight tonight.“ Na super. Und wir haben uns mit dem Pass noch so beeilt.

Air Austral hat aber schon die perfekte Lösung des Problems fĂŒr die nun aufgescheuchten FluggĂ€ste parat. Eine (wie alle folgenden) lediglich in gemurmeltem Französisch dargebotene Durchsage informiert uns, dass wir nun doch nicht (wie vorgesehen) alle aussteigen sollten, sondern diejenigen, die ein kostenloses Abendessen zu sich nehmen wollten, dies hier im Flugzeug tun könnten (auf ihren PlĂ€tzen), wĂ€hrend die anderen aussteigen sollten, wodurch das Durcheinander noch heilloser wird.

Uns steht nicht der Sinn danach, in der gestrandeten Maschine ein Flugzeugessen zu uns zu nehmen, ohne zu wissen, wie es denn nun weitergehen soll. Wir verlassen die Maschine. Draußen bilden sich diejenigen Menschentrauben um die Schalter, die wir in den nĂ€chsten insgesamt dreiundfĂŒnfzig Stunden noch öfter sehen werden. Die Crew der Air Austral wurde von den Vorkommnissen offenbar ebenso ĂŒberrascht wie wir. Die drei (!) abgestellten Stewardessen sind heillos damit ĂŒberfordert, die insgesamt 442 Passagiere erst einmal zu dirigieren. Alle paar Minuten ergeht eine PlanĂ€nderung per Durchsage auf Französisch, von der viele kein Wort verstehen. Die erste Stunde wird damit zugebracht, EinzelgesprĂ€che zu fĂŒhren und drei (!) Business-Class Passagiere auf einen Parallelflug nach Mauritius umzubuchen, der aber ansonsten voll ist. Das sorgt fĂŒr gute Stimmung am Gate und die ersten Economisten werden ausfĂ€llig. Findige SouvenirhĂ€ndler stellen auf Mistgabeln und Fackeln um. Ich schleiche von einem Schalter zum anderen, um wenigstens aus den einzelnen         Konversationen ein paar Erkenntnisse zu ziehen. Nach einer guten weiteren Stunde werden alle Passagiere, die nicht umgebucht wurden, gebeten sich vor dem MacDonalds 9 Gates weiter (!) einzufinden. Dieser ist hierfĂŒr kaum geeignet, da mit Kunden gefĂŒllt und nur durch einen schmalen Korridor vom nĂ€chsten Gate getrennt. Von weiterem Air Austral Personal fehlt jede Spur und die Diskussionen werden hitziger. Vor dem MacDonalds warten wir etwa eine dreiviertel Stunde ohne weitere Anweisungen. Ich pendele jeweils zwischen dem MacDo und dem neun Gates weiter gelegenen Schauplatz der nicht enden wollenden Diskussionen ĂŒber die AnschlussflĂŒge. Hier wird mir schließlich mitgeteilt, wir sollten unser GepĂ€ck doch wieder abholen, es wĂŒrde nun ausgeladen und  sei eine Etage tiefer empfangsbereit. Auf meine Frage, ob die Leute bei MacDonalds das denn auch wĂŒssten, versucht sich eine Mitarbeiterin dorthin durchzuarbeiten, wird aber immer wieder aufgehalten. Schließlich dringt die Information als stille Post durch und die Passagiere setzen sich in        Bewegung. Am GepĂ€ckband angekommen steht dieses still, von Air Austral fehlt jede Spur. Nach einer weiteren dreiviertel Stunde tauchen dann Crewmitglieder auf, die uns mitteilen, unser GepĂ€ck wĂŒrde nun doch nicht ausgeladen, um den Weiterflug zu vereinfachen. Wann dieser allerdings stattfindet (morgen womöglich bereits?) kann uns keiner sagen. Die Information, man solle sich außerhalb der Sicherheitszone am Air Austral Schalter melden, um ein Hotelvoucher fĂŒr die Nacht zu erhalten, dringt durch. Diejenigen FluggĂ€ste, die ihre Koffer benötigten, möchten sich bitte melden. Wir melden uns. Nicht nur, dass es wenig verlockend erscheint, morgen in denselben, inzwischen wenig ansehnlichen Klamotten wieder zu erscheinen, im Koffer haben wir außerdem unsere Medikamente.

Nachdem sich immer mehr Passagiere melden, kommt Seitens der Crew die Frage auf, ob man denn die Koffer wirklich brauche. Eine inquisitorische Grundhaltung entwickelt sich, in der ich recht kritisch gemustert werde, als ich mit unserem GepĂ€ckschein an der Reihe (sofern man innerhalb einer weiteren Traube von GepĂ€ckheretikern von Reihe sprechen kann) bin. Ob das denn wirklich nötig wĂ€re, unsere Koffer auszuladen. Ja, meines Erachtens schon. Mit einzelnen Passagieren werden auch die Details besprochen, also was der Koffer denn enthalte und ob man dies oder jenes wirklich brauche. Die Koffer der Crew sind inzwischen schon ausgeladen. Die GepĂ€cknummern der aus dem Flugzeug zu holenden GepĂ€ckstĂŒcke werden per (mehrfach ausfallendem) Mobiltelefon an die Verantwortlichen ĂŒbermittelt. FĂŒr eine weitere Stunde steht das GepĂ€ckband still, die einzigen, die   sich in dieser Situation ĂŒberhaupt mit uns befassen, sind die beiden Zöllnerinnen, die – mangels GepĂ€ck -natĂŒrlich gerade nichts zu tun haben und wenigstens Smalltalk halten. Momentan ist uns zum Aufgeben zu Mute und wir schmieden konkrete PlĂ€ne fĂŒr eine RĂŒckkehr mit dem TGV, glĂŒcklicher Weise kommt uns beiden dieser Gedanke nicht zur selben Zeit, sonst hĂ€tten wir wohl auf den Urlaub verzichtet.

Inzwischen ist die Stimmung so aufgeladen, dass einige Passagiere beginnen, die Überforderung des Personals per Handykamera zu dokumentieren, wobei ein Herr zur Herausgabe seines Handys aufgefordert wird – unter Drohung mit der Polizei.

Schließlich erhalten wir unsere Koffer und StĂŒrzen uns in die nĂ€chste Traube fĂŒr das Voucher. Dort erleben wir wĂŒtende Franzosen, die ihren Flug komplett stornieren und quasi per Videobeweis dokumentieren wollen, dass ihnen (auch jetzt kurz vor Mitternacht) noch keiner sagen kann, ob und wann ein Ersatzflug stattfindet (von AnschlussflĂŒgen ganz zu schweigen). Auch ihnen wird mit der Polizei gedroht. Wir setzen auf Konfliktvermeidung und holen uns unsere IBIS-Vouchers fĂŒr die Nacht ab. Mit dem Flughafenzug gelangen wir dorthin und stehen – bei 5 Grad und Nieselregen – vor verschlossener TĂŒr. Aus SicherheitsgrĂŒnden ist nachts hier nur die HintertĂŒr geöffnet, auch wenn ca. 60 Personen pro Hotel gleichzeitig von einem stornierten Flug eintreffen. Unser KleingrĂŒppchen zieht um das Hotel. Ich bewundere ein kleines afrikanisches MĂ€dchen, das die stĂ€ndigen

RichtungsĂ€nderungen mit stoischer Ruhe ertrĂ€gt, obwohl klar ist, dass es heute nicht nach Hause kommen wird. Im IBIS die nĂ€chste Traube und die sich verdichtende Erkenntnis, dass hier fĂŒr heute Endstation ist. Nachdem wir unser GepĂ€ck ĂŒber die fleckenĂŒbersĂ€ten Achtzigerjahreteppiche nach 523 gerollt haben, festgestellt haben, dass der SchlĂŒssel bei dieser ZimmergrĂ¶ĂŸe TĂŒr und Fenster gleichzeitig schließt und die MĂ€use einen Buckel haben, versuchen wir noch etwas Essbares zu finden. FĂŒnf Minuten vor Toresschluss ergattern wir einen Salat und ein Sandwich sowie zwei Miniaturausgaben Les Jamelles im hoteleigenen Kiosk und werden in die Lobby gescheucht – Feierabend. FĂŒr heute hat man uns nur mitgeteilt, dass es morgen ab 6 FrĂŒhstĂŒck geben wĂŒrde und wohl weitere Informationen.

Nach einer unruhigen Nacht betreten wir eine Dusche, deren dreieckige GrundflĂ€che dem gestrigen Sandwich Ă€hnelt, auch in der Dimension, was das Bebrausen entweder von vorn oder hinten erlaubt, dazwischen muss man (auch als normal konfigurierter MitteleuropĂ€er) die Kabine öffnen, um sich zu wenden. Im FrĂŒhstĂŒcksraum die nĂ€chste Traube – natĂŒrlich alle zwangslĂ€ufig mit ihrem GepĂ€ck – und eine Tafel, die uns darĂŒber informiert, man möchte bitte bis 8 Uhr im Bereich 2C9 erscheinen. Wir besehen kurz den Kampf ums kalte BĂŒffet und entscheiden uns keinen Appetit zu haben. Im Bereich 2C9 herrscht eine bedĂ€chtige Stille, auch als der kleine Zeiger die Acht bereits fĂŒr die nĂ€chsten zwölf Stunden hinter sich gelassen hat. Die Damen und Herren am benachbarten British-Airways Schalter werden stets auf den Flug nach La RĂ©union angesprochen und erklĂ€ren mit britisch-freundlicher Persistenz lediglich fĂŒr den geplanten Flug nach London-Heathrow zustĂ€ndig zu sein. Tant pis.

Gegen viertel nach acht erscheinen zwei (!) verschlafene Air Austral Mitarbeiter um nun die gestern ausgeladenen GepĂ€ckstĂŒcke wieder entgegenzunehmen. Da den beiden scheinbar auch nicht klar ist, weshalb eigentlich und wohin, beginnt der blonde Herr mit Halbglatze und bereits jetzt hochrotem Gesicht, erst einmal angestrengt zu telefonieren, fĂŒr eine geschlagene Viertelstunde. Seine Kollegin sieht ihm dabei zu. Irgendwann rollt dann das (bis 09:15 Uhr vorgesehene)  Einchecken/Kofferabgeben an. Dann gibt zuerst mal der Kofferetikettendrucker den Geist auf und wird wiederbelebt. Eine knappe Stunde vor boarding sind wir an der Reihe. Aha, Anschlussflug. „Geht das GepĂ€ck dann bis Nosy Be?“, werden wir gefragt. Das wollten wir eigentlich von dem inzwischen schlaganfallgefĂ€hrdet wirkenden jungen Mann wissen. Wir wissen bislang nicht mal, wie es in La RĂ©union ĂŒberhaupt weitergehen soll – und wann. Das muss er erst mal klĂ€ren. Wieder 10 Minuten Telefonat. Gute Nachrichten, man wird ihm telefonisch Auskunft erteilen. Wir sollen uns da rĂŒber stellen und warten, damit er weitermachen kann. Schön. Nach etwa zwanzig Minuten noch kein RĂŒckruf. Etwas mehr als eine halbe Stunde bis boarding. Inzwischen sind wir und ein französisches Paar, das ebenfalls nach Tsarabanjina möchte, die letzten am Schalter. Ich möchte gerne  vorschlagen, unser GepĂ€ck nur nach La RĂ©union einzuchecken, wir könnten es dann dort wieder aufgeben, wenn man wĂŒsste, wie es weiterginge. Nachdem mir eine adĂ€quate Formulierung auf Französisch eingefallen ist, trete ich an den Schalter: „Excusez-moi…“ Da versteht er gar keinen  Spaß. Neinneinein, er hat mir gesagt, ich solle warten, wir sollen ruhig sein und da drĂŒben stehen bleiben. Ich trete wieder zurĂŒck. Die Szene, in der der junge Mann mit dem roten Kopf peinlich berĂŒhrt und tatenlos mit verschrĂ€nkten Armen hinter dem Schalter sitzt, bemĂŒht, unbedingt den Augenkontakt mit uns oder dem anderen Paar (aber auch mit seinem stummen Telefon) zu vermeiden, wirkt, wie aus einem absurden TheaterstĂŒck. Wir warten. Kein Anruf. Boarding minus 20 Minuten. Irgendwann wird es mir zu bunt. Ich trete entschlossen heran und bringe mein Anliegen vor. Ja, das kann man machen, wenn WIR das so wollten. Ich gebe zu verstehen, dass wir hier alle bezweifeln, dass sein GesprĂ€chspartner sich noch daran erinnere zurĂŒckzurufen und vermute, dass dies die einzige Lösung darstellt. Na schön. Dann halt bis La RĂ©union. Ob er schon was ĂŒber den Anschlussflug weiß? Nein, natĂŒrlich nicht. Das sagen uns alles die Leute da unten. Wo, da unten? In RĂ©union? Ja, klar. Um Mitternacht, wenn wir ankommen? Sicher, sicher.

In den verbleibenden 15 Minuten hetzen wir durch die Sicherheitskontrolle, vermischen unser HandgepĂ€ck mit dem einer vollburkatragenden Großfamilie und dividieren es wieder auseinander. Wieder bis zum hinterletzten Gate. Kein boarding. Eine dreiviertel Stunde, dann tut sich was. Ein dĂ©jĂ  embarquĂ©. Über eine Stunde nach dem eigentlichen Zeitplan geht es los. Mit dem Piloten entschuldigt sich zum ersten Mal jemand offiziell fĂŒr die Unannehmlichkeiten.

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Kurz nach Mitternacht schlagen wir im Roland-Garros Flughafen von St. Denis, La RĂ©union auf. Wir möchten bitte alle unser GepĂ€ck abholen. Ach was! Am GepĂ€ckband schaue ich mich um. Wenn hier vor dem ersten boarding irgendjemand noch nicht urlaubsreif war, ist er oder sie es jetzt. Ein kleiner Schalter mit drei Austral Air Angestellten ist an der neuerlich formierten Menschentraube gut auszumachen. Ich stelle mich an. Wer sein GepĂ€ck nicht hat, wird zum Band zurĂŒckgeschickt. Wir bekommen ein Voucher und einen Transfer zum Akoya-Hotel in St. Gilles. Heute geht es nicht mehr weiter. Und wann geht es morgen weiter? Flugplan? Bordkarten? Fehlanzeige. Wir fallen in den Oiseau-Bleu-Bus vor der TĂŒr, dessen Fahrer die GĂ€ste wegen des Koffergewichtes anmotzt. Nach einer dreiviertel Stunde setzt der Bus sich in der Tat in Bewegung und fĂ€hrt. Und fĂ€hrt und fĂ€hrt. Fast eine Stunde die KĂŒste nach Westen. Das Akoya-Hotel kann man dann nur als Lichtblick bezeichnen. Man fertigt uns schnell und freundlich ab, die AtmosphĂ€re ist einladend. NĂŒtzt aber wenig, denn um fĂŒnf gibt‘s FrĂŒhstĂŒck, damit es um sechs mit dem Bus weitergehen kann. Ich schaue auf die Uhr.

Duschen eingerechnet werden wir in diesem luxuriösen Ambiente also mit GlĂŒck zwei Stunden schlafend verbringen. So ist es auch.

Der nĂ€chste Morgen. Traube am Bus. Bus zu klein. Aussteigen. Neuer Bus. Zwanzig Minuten VerspĂ€tung. Montagmorgenstau auf der KĂŒstenstraße nach St. Denis, hatte keiner mit gerechnet. Insgesamt fahren wir zwei Stunden Bus. Das boarding ist jetzt offiziell vorbei. Wir hechten an den Schalter. Ein kleines MĂ€dchen vor uns schlĂ€ft auf dem Koffer, den der Papa wieder aufzugeben versucht. Ich kann sie verstehen. Am Schalter gute Neuigkeiten. Unser GepĂ€ck wird direkt weitergeleitet. Wir mĂŒssen es in Mayotte nicht abholen. Haltmal… Mayotte? Ja, wir fliegen ĂŒber Mayotte. Dort nochmal boarding nach Nosy Be. Das kann ja wohl nicht wahr sein. Doch, es gibt keinen Direktflug. Verdammt. Routiniert weiter. Vierte Sicherheitskontrolle seit Frankfurt. Eineinhalb Stunden dorthin, wo wir etwa herkamen. Eineinhalb Stunden schreiendes afrikanisches MĂ€dchen vor mir. So langsam ist Sense. Mayotte, die Frisur sitzt. Wieder raus. Neue Bordkarte. Wieder rein.

Boarding. Bus. Der fĂ€hrt genau zweihundert Meter bis zur einzigen Maschine auf dem Rollfeld. Holprige knappe Stunde bis Nosy Be. Ein Schweizer vor uns will Euro gewechselt haben. Möglichst klein. Von mir aus. Auf Nosy Be passt zwischen Palmen, HĂŒtten und Meer eine Landebahn.

Da. 53 Stunden nach dem Nieselregen. Wie viele Leidensgenossen mögen wohl das Strandtuch geschmissen haben?

Un p’tit cadeau?

Zu unserem Hochgenuss ist auch unser GepĂ€ck angekommen. Vom GepĂ€ckband trennt uns die sehr improvisiert wirkende Landesgrenze des Staates Madagaskar. Visum. Am wichtigsten ist es, dass die 25 € p.P. ĂŒber die Theke gehen. Ein kleines Kunstwerk aus Visum, Stempel und Signaturen wird in unseren Pass kalligraphiert. Durchaus sein Geld wert. Zur Passkontrolle bitte. Aber wir haben doch eben…? Komm, einmalnichdrĂŒbernachdenken, zweimalnichdrĂŒbernachdenken… Ja, alles in Ordnung, das Visum ist da. Es hat die ZweimeterfĂŒnfzig von seiner Ausstellung bis zur Kontrolle gut ĂŒberstanden. Die Einreisebeamte nickt, behĂ€lt unsere PĂ€sse und lĂ€chelt freundlich – fĂŒr meinen Geschmack etwas zu freundlich und etwas zu lange. Sie murmelt etwas durch das Gals und ich  könnte schwören das Wort „cadeau“ gehört zu haben, wenn es nicht so abwegig wĂ€re. Ich frage nach und nochmal nach, weil ich es nicht glauben kann. Die Grenzbeamtin will Trinkgeld. Meine Frau ĂŒberspringt im Geiste die nĂ€chsten Schritte, in denen ich meine Affenwut kriege und eine Diskussion vom Zaun breche, knufft mich und sagt: „Die hat unsere PĂ€sse.“ HĂ€tte ich dem Schweizer nur nicht meine ganzen kleinen Euros gegeben. Der war offenbar schon mal hier. Wir lassen unsere zur Zeit wankende (hier superstabile) GemeinschaftswĂ€hrung rĂŒberwachsen und nehmen mit einem Bitterlemongesicht unsere PĂ€sse wieder entgegen, Stempel inklusive. Wir mĂŒssen dann noch ĂŒber die Visakontrolle. Issjawohlein Scherz. „Wenn der jetzt auch noch Trinkgeld will, kommen wir heut‘ Abend in den Nachrichten!“ „Reiß dich zusammen!“ Nein, der ist ganz harmlos, der will nur gucken. Zoll. Klar. Zoll. Prima. Koffer bitte hochwuchten. Mach ich. Was zu deklarieren? Nö. Dann is‘ gut. Koffer bitte wieder runterwuchten. „Wollen die mich verĂ€ppeln?“ „Bleib ru-hu-hiiiig.“

Draußen bricht mir erst mal der Schweiß aus und irgendwer nimmt mir meinen Koffer weg. Hoffentlich gehört der zum Hotel. Tut er nicht. Will aber nur 2 $ fĂŒr fĂŒnf Meter Koffer tragen. Prima. Auch sonst allerlei fahrendes Volk unterwegs. Eine Voyante bietet ihre Dienste an. „Votre chance, Monsieur?“

„Nein, zu spĂ€t, Madame! In Paris, da hĂ€tte ich Sie gebraucht! Na, wo waren Sie denn da? HĂ€h?“ Meine Frau zieht mich weiter. Wir werden erwartet und steigen in einen alten Hyundai. Quer durch Nosy Be geht die Fahrt auf einer Buckelpiste aus Sand und PfĂŒtzen (ist ja grade Regenzeit). Unser Fahrer hat mitbekommen, was sich so zugetragen hat und fĂŒhlt sich irgendwie verantwortlich.

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Jedenfalls kĂŒmmert er sich rĂŒhrend darum, uns wieder mit der Reise zu versöhnen. Wir halten an einem Cananga-odorata-Baum und pflĂŒcken einige Ylang-Ylang BlĂŒten. Die, so erklĂ€rt man uns, sind eines der Geheimnisse in der Fertigung von Chanel N°5 und werden Tonnenweise nach Paris geschickt. SpĂ€ter bekommen wir mit, dass Ylang-Ylang in Madagaskar gar nicht endemisch wĂ€chst. Der Baum wurde in den fĂŒnfziger Jahren aus Malaysia und Indonesien durch die Franzosen zuerst nach La RĂ©union verbracht, wo sie aber nicht wachsen wollten. Danach hat man es in Mayotte versucht und schließlich in Nosy Be. Wir fĂŒhlen mit den Ylang-Ylang BlĂŒten, denn wir kennen den Weg. Hier wĂ€chst der Baum nun als Strauch und wird kleingehalten wie die Kolonien frĂŒher durch die Franzosen. Alle zwei Wochen werden BlĂŒten geerntet. Pro 30 kg BlĂŒten wird ein Liter Destillat gewonnen.

SpĂ€testens als wir das erste ChamĂ€leonpĂ€rchen sehen, hebt sich unsere Laune merklich. Auge in Auge stehen wir uns gegenĂŒber, wobei mir nicht klar ist, wo mein schuppiger Freund eigentlich hinschaut. Ich lasse ihm mein head-and-shoulders ProbepĂ€ckchen und wir holpern weiter. Gern wĂ€ren wir in einem Dorf ausgestiegen, aber das ist nicht. Hier sind heute alle festlich fĂŒr eine Beerdigung, lieber keine Touris.

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Vergeblich suchen wir einen Bootsanleger und werden gewahr, dass es hier nur einen großen Anleger gibt. Die Einheimischen nennen ihn Strand. Wir legen die Turnschuhe ab und krempeln die Langen Jeans hoch. Also los. Als wir zwischen Nosy Be und Nosy Komba (Heimat der Lemuren) hindurchschippern, haben wir das GefĂŒhl, als könne der Urlaub nun losgehen. In der Ferne zeichnet sich im Dunst ein Eiland mit einer markanten Landzunge und einem hĂŒgeligen RĂŒcken ab, wie eine Beschwörung aus einer fremden Welt – Tsarabanjina.

Tsara be

Beim Aussteigen die schönsten nassen FĂŒĂŸe der Welt. Alle stellen sich vor. Ich kann mir kaum einen Namen merken, zumindest ein paar Gesichter. Wir sind in der Regenzeit unterwegs, Nebensaison. Den sechzehn GĂ€sten stehen mindestens zwanzig Angestellte gegenĂŒber. Man spricht hier ein Français trĂšs relaxĂ©, keine Not zum Konjugieren und so, prima. Wir kommen wieder in den flow. „Le flow“ wie der Franzose sagt. Dieser endet abrupt vor der Villa 14 in den LiegestĂŒhlen unserer dem Inselgranit abgetrotzten kleinen Aussichtsplattform mit der Erkenntnis, die letzten drei Tage hĂ€tten sich wohl gelohnt. Unser palmblattgedecktes HĂŒttchen mit dem großen moskitobenetzten Himmelbett verschwindet langsam unter einem blutenden Wattehimmel, der sich irgendwo ĂŒber Mosambik ins Meer senkt. Alles richtig gemacht.

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Tsarabanjina ist so klein, dass sich auf „Google maps“ keine Landmasse gegen den indischen Ozean abgrenzen lĂ€sst. Lediglich der Schriftzug der Constance Lodge lungert verloren im Google- Meeresblau herum. Nach einer Begehung der KĂŒstenlinie, bestehend aus dem Nordstrand, an dem wir wohnen, dem Oststrand (einem unbebauten kleinen StĂŒckchen Insel), dem SĂŒdstrand und dazwischenliegenden Felsen konstatiere ich 2700 Meter KĂŒstenlinie. Da reicht schon eine hohe Welle… Der letzte Zyklon (≠ die Leute mit dem einem Auge) suchte die Insel 2013 heim. Wir setzen auf einen Vierjahresrhythmus und bleiben ruhig. TatsĂ€chlich ist das Klima in den einzelnen Teilen Madagaskars sehr unterschiedlich, wird uns erklĂ€rt. In Tana (kurz fĂŒr die Hauptstadt Antananarivo, weil das keiner aussprechen kann und will) kann es wegen der Lage auf ĂŒber 1000 Metern ziemlich kalt werden. Jenseits der zentralen Bergkette an der OstkĂŒste sind regenlose Jahre durchaus möglich, wĂ€hrend es im Nordosten im hiesigen Sommer oft regnet (zu unserem Erstaunen nur nachts).

Tsarabanjina hat sein eigenes (sehr unwetterarmes) Mikroklima und – mit MEZ +3 – eine andere Zeit als die Hauptinsel, die auch gerne der achte Kontinent genannt wird (fĂŒr alle die nachrechnen: Antarktis nicht vergessen!). So verschieden wie die Klimazonen sind auch die Menschen, die sich in ihnen tummeln. Wir bekommen eine Geschichtsstunde von Ramiandrisoa Hery Gedeon, der uns zunĂ€chst mal seinen Namen erklĂ€rt: l‘homme qui attend toujours le bien. Selbst Nosybeaner, organisiert er TagesausflĂŒge zu benachbarten Inseln im Auftrag der Na- und Kultur. Den einen

„Malgache“, so lernen wir, gibt es nicht. Die Leute von der KĂŒste, zu denen er sich selbst rechnet (er gehört zum Antakarana-Stamm), seien nicht die Cleversten, in der Regel Fischer. Die HauptstĂ€dter seinen cleverer „plus malin“, aber das sei auch eine ganz andere Rasse, die Sakalava, hervorgegangen aus der mĂ©lange mit asiatischen Völkern, vor allem den Malaien. Die Menschen an der WestkĂŒste haben sich mit den ostafrikanischen Völkern vermischt, wĂ€hrend die OstkĂŒstenbewohner ihren Einschlag aus den arabischen Staaten bekamen. So hat also die menschliche DNA auf Madagaskar einen regen Austausch erfahren, wohingegen die Tierwelt sich hier in einer Abgeschiedenheit entwickeln konnte, die ihresgleichen sucht. Heute leben auf Madagaskar Tierarten, die es nirgends sonst auf der Welt gibt. Dazu zĂ€hlen auch die Lemuren und der Tenrek, eine knuddelige Mischung aus Igel und Wildschweinfrischling. Ob es zwischen den einzelnen StĂ€mmen Auseinandersetzungen gibt, wollen wir wissen. Nein, eigentlich nicht. Die Malgaches haben es offenbar immer so genommen, wie es kam. Einige Könige konvertierten zum Christentum, dann kamen die Franzosen (und vor ihnen die EnglĂ€nder) in Schaaren, brachten allerlei mit, unter anderem auch das Wissen um den Gebrauch von Schusswaffen, was einzelne StĂ€mme ĂŒberlegen machte und Allmachtsphantasien beflĂŒgelte, nahmen aber meist noch mehr mit, als sie brachten. Nicht selten setzten die Nachfolger dieser Herrscher wieder den alten, animistischen Glauben ein (von dem es auch hunderte Varianten mit verschiedensten BrĂ€uchen gibt) und jagten die Franzosen vom Hof. Im Prinzip ging das so bis 1958, als sich die Malgaches die UnabhĂ€ngigkeit erstritten. Nur wenig Blut (welches zusammen mit der Erde die rote Farbe in der Landesflagge darstellt) wurde vergossen, darauf ist er hörbar stolz (das Weiß der Flagge symbolisiert ĂŒbrigens eben diese stolze Volksseele der Malgaches). Der VollstĂ€ndigkeit halber symbolisiert das GrĂŒn der Flagge die bereits beschriebene BiodiversitĂ€t – und fertig ist die Fahne. So ganz einfach gestaltet sich die jĂŒngere Geschichte Madagaskars dann aber doch nicht. Die von den Franzosen eingesetzten Machthaber sind nicht mehr, man bevorzugte Leute von der KĂŒste, die waren nicht so „malin“ und daher leichter steuerbar. Der seit 1960 freie Staat mit BodenschĂ€tzen, Erdöl und hohen landwirtschaftlichen ErtrĂ€gen macht sich selbst unfrei. Die ersten Machthaber missbrauchen ihre Position, immer wieder werden Despoten vom MilitĂ€r gestĂŒrzt und wieder umgekehrt. Man sucht die NĂ€he zum Ostblock, um sich von Frankreich abzugrenzen, nach 1990 dann wieder zu Frankreich. Mehrere Generalstreiks legen das Land lahm, teils bis zu einem halben Jahr, Wahlen werden manipuliert und dieselben Schachfiguren hin und her bewegt. Dazwischen hat Disney einen Pinguinfilm gedreht.

Heute gehört Madagaskar zu den zwanzig Ă€rmsten LĂ€ndern der Welt – und das leider ohne Not. Dabei gibt es hier auch so etwas wie schlechtes Karma, nicht in dem Sinne als SpĂŒlmittelflasche oder kleine schwarze Olive wiedergeboren zu werden, aber das Konzept der Seele (daher Animismus) ist ein ganz besonderes. Nicht nur, dass von einem Fortbestehen der Seele ausgegangen wird, diese â€žlebenden Seelen“ sind omniprĂ€sent. Falsche Handlungen können die eigene und/oder die umgebenden Seelen krĂ€nken und das Schicksal verschlechtern. Daher existieren sogenannte „fady“, Ge- und Verbote fĂŒr ein anstĂ€ndiges Leben – dann klappt‘s auch mit den Seelen. Das malgache „aza fady“ bedeutet so viel wie „Entschuldigung“ oder „möge es kein fady sein“.

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Wir hoffen sehr, dass es kein fady wird, als wir am nĂ€chsten Morgen auf Erkundungstour gehen. Über die Nacht haben wir Kontakt mit der lokalen Fauna gemacht und uns besser kennengelernt. Mal stach man uns, mal hauten wir zurĂŒck. Die Klimaanlage hatten wir, an den Winter gewöhnt, ausgeschaltet (an zudecken nicht zu denken) und auch kein „No Bite“ oder Ă€hnliches versprĂŒht. Das Moskitonetz funktionierte tatsĂ€chlich so, dass es die Aedes-Clique drinnen statt draußen hielt und die riesen Dose MĂŒcken-Ex, die wir in den kommenden Tagen jeweils einmal tĂ€glich aufbrauchen sollten, entdecken wir erst am nĂ€chsten Morgen. Nun gut. Unter einer Lackschicht aus Cortisonsalbe und Autan treten wir auf die Holzplanken der Terrasse unseres Domizils und bewundern die angenehmen AuswĂŒchse der hiesigen Fauna. Die Moskitos (jene, die meiner fĂŒrchterlichen Rache entgangen sind) haben schon alle ihre kleine Stechuhr bedient und sind in der Heia – ĂŒber Tag trifft man kaum welche – da lĂ€uft uns einer der zahlreichen StrandlĂ€ufer ĂŒber die FĂŒĂŸe. Da die kleinen spitzgeschnĂ€belten Zeitgenossen regelmĂ€ĂŸige TauchbĂ€der in den Fußwaschbecken links und rechts unseres Bungalows nehmen, sind sie quasi omniprĂ€sent. Kein Vergleich zu den spatzenĂ€hnlichen Viechern auf la Digue aber mit großer ZurĂŒckhaltung geht man auch hier nicht ans Werk. Zuweilen wird, wenn wir dann doch mal das Fußbad brauchen, etwas geplustert und gemotzt, wir pflegen diese HahnenkĂ€mpfe aber dank körperlicher Überlegenheit in der Regel zu gewinnen. Gerade eben zirpt ein kleiner Kerl neben mir so penetrant, dass ich ihn doch mal nachschlage: Aha, der ParadiesschnĂ€pper, Symbol der Insel. An der vorderen rechten Ecke unseres Palmblattdaches wird gebaut, ein ParadiesschnĂ€ppernest. Heute scheint Richtfest zu sein und das Gezirpe reißt nicht ab. Bevor Papa-SchnĂ€pper das Fass ansticht  sind wir schon weg und wandern gedankenverloren den Nordstand hinauf. In der Ferne sind vier massive Granitformationen auszumachen, die „les quatre frĂšres“ genannt werden. Der Legende nach hatte einer der – ehemals fĂŒnf – BrĂŒder Streit mit drei der anderen, was den vierten Bruder so traurig machte, dass er nicht mehr bei den anderen bleiben wollte. Fortan war sein Kummer so stark, dass  ihn auch die Vögel nicht mehr besuchen wollten und so ist es geblieben. Der fĂŒnfte Bruder heißt heute â€žĂŽle SucreĂ©â€œ und liegt in einiger Entfernung. Am Ende des Nordstrandes ragt der bergige InselrĂŒcken auf, den man zwar auf den großen Granitfelsen umlaufen kann, bei Flut aber beschwerlich. Wir entscheiden uns, durch das Inselinnere abzukĂŒrzen, nicht zuletzt weil einige der in den Granit gewaschenen Formationen aussehen wie riesige FußabdrĂŒcke und wir im Flieger „Jurassic World“ gesehen haben. Wir passieren den Shop und kaufen ein – fĂŒr zigtausende Ariary (der steht zum Euro aktuell 1 zu 3500) – und gelangen zum SĂŒd- und ĂŒber diesen zum kleinen beschaulichen Oststrand. Jetzt doch sehr erleichtert ĂŒber die Entscheidung fĂŒr festes Schuhwerk ĂŒbersteigen wir die bizarren Felsformationen nach Osten, die zum Teil vollkommen mit Muscheln bewachsen sind. Kleine bleiche Krebse fliehen vor uns – wohl EuropĂ€er. Wir erreichen unter knackendem Korallenbruch die kleine Halbinsel, die Tsarabanjina nach SĂŒdost abschließt. „Un lieu sacrĂ©â€œ hat man uns gewarnt, mit vielen fadys eben. Die Sakalava haben hier nĂ€mlich ihre HĂ€uptlinge beigesetzt und noch heute ist die presque-Ăźle eine OpferstĂ€tte. Die gĂ€ngigsten Opfer sind Rum, Zebu (die buckligen KĂŒhe), HĂŒhnchen und bleiche Missionare. Wir wurden gefadyt eine Kopfbedeckung zu tragen – so sei es.

Nach einer Weile des Kraxelns um das Halbrund haben wir keine GrĂ€ber entdeckt. Ich entschließe mich, ĂŒber eine kleine Schneise zu hĂŒpfen, wĂ€hrend meine Frau zurĂŒckgeht. Irgendwo mĂŒssen die doch liegen. Ich gebe entnervt auf. Den Opferdollar, den ich mangels Rum (und Zebus) eingesteckt habe, klemme ich symbolisch in eine Felsspalte.

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Plötzlich erscheint in der gleißenden Sonne vor mir eine Gestalt, die ich zuerst nur schemenhaft abgrenzen kann. Nach einigen Sekunden, die mir wie Stunden vorkommen, kann ich den alten Mann mit dem pointilistisch dekorierten Antlitz gut erkennen, dennoch haftet ihm etwas Geisterhaftes an. Er steht nur da und fixiert mich. Kein Laut. Auch nicht von mir. Binjanichdoof. Dass es sich um eine der vielen wandelnden Seelen handeln muss, von denen man so oft hört, wird mir klar als er – durch einen der Felsen hindurch – auf mich zukommt. Bei 30 Grad im Schatten wird mir eisenskalt. Das hĂ€tt‘s nun nicht gebraucht. Jeden Urlaub aber auch dasselbe. „Servus!“ beginne ich eine Konversation, wir sind schließlich im SĂŒdosten der Insel. Kein Wort. Der Blick durchsichtig aber versteinert. FadymĂ€ĂŸig  laufen die Dinge eher schlecht fĂŒr mich. Man wird gesprĂ€chiger. Ich habe die Ruhe der Ahnen gestört. Mir klar. Das ist fady. Hab ich mir irgendwie gedacht. Ich habe mein Haupt mit einem lĂ€cherlichen Hut bedeckt. Na hör mal, mein schönes Buff. Und ich habe nichts geopfert. Wohl: einen Dollar, da hinten steckt er. Ob mir der Dollarkurs gelĂ€ufig sei. Ja, schon, aber es kommen auch wieder bessere Zeiten. Mehr hab‘ ich jetzt auch nicht da. Dann mĂŒsse ich mit meinem Leben zahlen. Das find ich jetzt aber ein wenig zu hoch gegriffen. Und dann noch dazu hier, wo stĂ€ndig irgendwelche Touris meine Totenruhe stören, nĂ€hnĂ€hnĂ€h. Mann, erst diese Affenanreise und jetzt das. Plötzlich hellt sich das versteinerte Gesicht meines GegenĂŒbers auf. Anreise? Aber doch nicht etwa Air Austral? Stimmt. Wie kommt er denn jetzt darauf? Die wandelnde Seele bricht in schallendes GelĂ€chter aus und kugelt sich auf den Felsen, sofern das einem Entleibten physisch möglich ist. Nein sowas komisches, das hat er  ja noch nie gehört. Über Paris, nicht wahr, muhahaha. Und dann von La RĂ©union nach Mayotte. Er kringelt sich. Ja-haaa, is‘ ja gut. TrĂ€nen der Freude strömen ĂŒber sein Gesicht. Nein, so ein scheiß fady hĂ€tte nicht mal er sich ausdenken können. Er holt tief Luft (als ob er die brĂ€uchte) und setzt sich. Nein, Junge, ihr seid gestraft genug, die zornigsten Götter sitzen bei Air Austral. Er bedeutet mir, mich auch zu setzen und zieht an einem Pfeifchen, das er weiterreicht. Jetzt nur kein Risiko mehr eingehen. Mmmh, schon schlechter geraucht, hĂŒsthĂŒst. Was ist das? Zebudung. Mmmh….

„Lauf! Er hat mich gehen lassen.“ – „Wer?“ – „Die wandelnde Seele… is‘ doch jetzt egal. Wir haben aus Mitleid sogar den Dollar zurĂŒckbekommen.“ – „Na gut, ich frag schon nicht mehr.“ Völlig durch landen wir schließlich in der Bar. Darauf erst einmal einige Gin Tonic ohne Tonic. Zum ersten Mal genießen wir die Freuden eines all-inclusive Urlaubs. Die zu allen Himmelsrichtungen offene Bar mit Restaurant im Westen der Insel wird von krĂ€ftigen BaumstĂ€mmen gehalten die – das ist hier durchaus nicht gewöhnlich – auf einem zementierten Fundament lagern. Ihre breite Treppe wird von kokosnusstragenden Palmen gesĂ€umt, der Boden besteht aus feinstem Sand. Hier lĂ€sst es sich aushalten. Oben im Restaurant serviert man uns allabendlich, was die Fischer am Tage heimbringen und das ist von ausgesuchter QualitĂ€t. Einen KĂŒhlschrank braucht es kaum, da der Fisch quasi aus dem Meer auf den Grill kommt und auch ungegrillt genießbar ist. Außerdem wird uns das Wappentier der Insel serviert, das Zebu. Die KĂŒhe mit dem Buckel sind eine Herzenssache der Malgaches, ohne sie wĂ€re kein Feld bestellt, kein madagassischer Magen gefĂŒllt und der Transport zwischen den Ă–rtchen auf den ebenso buckeligen Sandpisten eine Qual. Selbst die madagassische Fußballnationalmannschaft ist nach ihnen benannt. Schade also, dass es das Zebu nur auf den 500 Ariary-Schein geschafft hat. Ein Politikum, ĂŒber das sich Rami trefflich aufregen kann. Er drĂŒckt mir bei einem unserer GesprĂ€che eine ganze Handvoll Ariaryscheine (im Gegenwert von nicht mal 5 €) in die Hand und hadert. Das Zebu kommt schlecht weg als Motiv, auch die Lemuren. Auf dem 10.000 Ariaryschein findet sich dagegen ein Piktogramm eines realexistierenden Straßenarbeiters, der große Genugtuung ĂŒber die erfolgreiche Fertigstellung des madagassischen Straßennetzes empfindet, zu Ehren des PrĂ€sidenten und vom Stil her durchaus dem Ostblock vor 1980 zuzuordnen. Dass das wichtiger sein soll als das Zebu, das geht gar nicht. Die Zehntausendernote (etwa 3 Euro) heißt ĂŒbrigens „une nuit“, nicht nur, weil die Landbevölkerung Zahlen in dieser GrĂ¶ĂŸenordnung nicht auszusprechen gewöhnt ist. Ob es nun eher der Gegenwert einer Nachtschicht oder einer ganz anders gearteten NachtbeschĂ€ftigung ist, lĂ€sst unser Freund mit einem verschmitzten LĂ€cheln offen, es heißt eben „une nuit“, basta. Zebufleisch ist davon abgesehen eine wahre Offenbarung und sehr zart. Hier wird es in einer Pfeffersauce serviert und ich habe das GlĂŒck, noch ein zweites zu bekommen, nĂ€mlich das meiner Frau, nachdem ich Bilder von sĂŒĂŸen ZebukĂ€lbchen gegoogelt habe, und ihr der Appetit vergeht. Auch madagassischen Wein aus „Tana“ probieren wir, worĂŒber sich Issa, unser Sommelier sehr freut. Wir finden, er schmeckt wie Elbling, aber das nimmt Issa erstmal als Kompliment.

Als die Nacht hereinbricht, versammelt man sich zu madagassischer Folklore am Strand. Ebenso wie die Tatsache, dass man bei diesen Temperaturen eine solche Frequenz trommeln kann, ĂŒberrascht es uns, dass wir PizzahĂ€ppchen gereicht bekommen – mit Serrano. Sogleich lernen wir Massimo und seine Frau kennen, die uns aufklĂ€ren, dass Madagaskar tourimĂ€ĂŸig fest in italienischer Hand ist. In der Tat gibt es einen Direktflug aus Mailand – das wĂ€r‘s gewesen! Neunzig Prozent der GĂ€ste sprechen italienisch und die Madagassen auch – fließend und besser als Französisch. Ich gebe zu verstehen, dass ich italienisch nur mit den HĂ€nden spreche und vollfĂŒhre einige einschlĂ€gige Gesten der jahrelangen Erprobung. Aufgrund des fortgeschrittenen Alkoholpegels geht das aber in Ordnung. Wir verabschieden uns, denn morgen geht es frĂŒh los…

Nosy Komba

Wer in den Trickfilmen richtig aufgepasst hat, dem ist klar, dass es neben Pinguinen auf Madagaskar natĂŒrlich auch Lemuren gibt. King Julien wollen wir natĂŒrlich mal gesehen haben und heuern um acht Uhr dreißig zur eineinhalbstĂŒndigen Überfahrt an. Rami sitzt neben mir und erörtert die madagassische Öffentlichkeit. Seinen FĂŒhrerschein hat er verloren. Wenn er den jetzt wiederhaben will, muss er quer ĂŒber die Insel nach Tana. Zwar gibt es Flugzeuge, wenn er aber den konventionellen Weg wĂ€hlt, ist er unter UmstĂ€nden Tage unterwegs, da muss er einen Sack Reis mitnehmen (da es auf dem Weg keine Restaurants oder SupermĂ€rkte gibt). Angekommen mĂŒsste er dann aus einem großen Regal der in 2011 ausgestellten FĂŒhrerscheine seinen heraussuchen – er selbst und ohne Computer. Das kann durchaus Tage dauern. Was er stattdessen macht, will ich wissen. Er lĂ€sst eben bei der FĂŒhrerscheinkontrolle ein paar Ariary rĂŒberwachsen. Die bekommt natĂŒrlich der Polizist. Da könnte ich Geschichten von der Grenze erzĂ€hlen, aber gut… Rami fĂ€llt mir ins Wort. Einmal, so berichtet er, hat sich ein befreundeter Polizist, als fĂŒr eine anstehende Party Ebbe in der Kasse herrschte die nötigen Bestechungs-Ariary in kĂŒrzester Zeit zusammenkontrolliert. In Personalausweisen wird in der Regel beim Geburtsdatum eingetragen „im FrĂŒhjahr 2016“ – wenn Mutter und Kind die Geburt gut ĂŒberstehen. Dreißig Prozent perinatale Sterblichkeit, nein, nicht in Tana, wo die meisten hingehen, die es sich irgendwie leisten können, sondern hier. Das Gesundheitswesen beruht auf dem Selbstzahlerprinzip. Eine Anamnese, Statuserhebung und ein Rezept kosten „une nuit“, wer nicht zahlen kann nimmt HeilkrĂ€uter oder geht ein wie eines.

Wir erreichen die KĂŒste. Die Inselhauptstadt Ampangorina liegt vor uns. FrĂŒher wurde hier Zuckerrohr zu Rum destilliert, der Name der Stadt trĂ€gt dem heute noch Rechnung, obwohl es kein Zuckerrohr mehr gibt. Auch Reis wird nicht mehr angebaut, seit zu viele Mangroven den AnbauflĂ€chen zum Opfer fielen. Doch nicht nur die Tage von Onkel Ben sind gezĂ€hlt. Oben auf 670 Meter, der höchsten Erhebung der Insel, liegen 99 Franzosen begraben, Opfer einer Choleraepidemie, die nur einer der einhundert stationierten Franzosen ĂŒberlebte. Ampangorina besteht aus wenigen gemauerten HĂ€usern, die ĂŒberwiegend von EuropĂ€ern bewohnt werden, sowie einigen Dutzend  BretterverschlĂ€gen ohne TĂŒr oder Fenster. Wer sein Dach mit Wellblech ausstattet gehört schon zu den GlĂŒcklicheren und schĂŒtzt es durch große Wackersteine vor dem Wind und den Nachbarn. Im Übrigen werden die HĂŒtten in Handarbeit aus der Ravenala Madagaskariensis, dem „travellers tree“ gefertigt, die Grundkonstruktion aus den StĂ€mmen, die DĂ€cher aus den BlĂ€ttern. Ein neues Dach wird alle sieben Jahre fĂ€llig. Wir MitteleuropĂ€er sind erst einmal erschlagen von der scheinbaren Armut, die uns unterkommt – Kinder, die selbst Kinder haben tragen diese schreiend vor sich her, als wir zwischen den improvisierten Abfalleimern mit HĂŒhnerfedern und sonstigem Allerlei durch die sandigen Hinterhöfe gefĂŒhrt werden. Man hockt auf dem Boden und rasiert sich gegenseitig den SchĂ€del oder hĂ€lt Siesta. Über einige HauptstĂ€dter, die auf den Lehmböden liegen, stolpern wir fast. HĂŒhner- und Entenfamilien kreuzen unseren Weg. Hie und da wird ein rostiger Topf geschrubbt und die Alten vor den HĂŒtten sehen uns kauend und missmutig nach.

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Von Armut keine Spur, berichtet Rami, die Insel gehört zu den wohlhabenden Gebieten der Region, sogar des gesamten Landes. Hier gibt es Obst, mehr als genug fĂŒr den Eigenbedarf – es wird exportiert – Fisch en masse, der mit Handfangnetzen aus der seichten Brandung gezogen wird und frisch oder gerĂ€uchert ĂŒber die improvisierten Theken geht, außerdem fließendes Wasser fĂŒr alle, das in großen Rohrsystemen von den SĂŒĂŸwasserfĂ€llen im Zentrum der Insel zur KĂŒste geleitet wird und allen kostenlos an einzelnen Brunnen im Stadtzentrum zur VerfĂŒgung steht. Die Rohre sind in regelmĂ€ĂŸigen AbstĂ€nden mit Löchern versehen, in die man ein flaches Hölzchen einbringen kann, um eine sprudelnde Quelle zu erhalten. Außerdem gibt es hier sauberes Grundwasser, einen immergrĂŒnen Mangrovenwald und die Lemuren, die eine weitere ĂŒberlebenswichtige Spezies anlocken – uns. Wir stellen einen entscheidenden Wirtschaftsfaktor dar und werden daher bedĂ€chtig an den, in der gleißenden Sonne feilgebotenen, handbestickten Tischdecken und geschnitzten Minilemuren vorbeigefĂŒhrt. Wir sollen bitte handeln macht Rami klar:

„Ici, tout est disponible, tout est discutable au Madagascar.“ Wir kaufen zwei Krötendecken und Minilemuren fĂŒr zu Hause, die wir spĂ€ter abholen wollen, wir sind hier ja wirklich leicht wiederzuerkennen.

Es klingelt zur Pause. Eines der wenigen gemauerten GebĂ€ude entleert aus seinen tĂŒrenlosen blaugetĂŒnchten Löchern zahlreiche Schulkinder, die sich sofort auf dem „Hof“ die Murmeln wegnehmen und prĂŒgeln – wenigstens das ist wie zu Hause. Die FID (fĂ©dĂ©ration internationale du dĂ©veloppement) hat die grĂ¶ĂŸten GebĂ€ude der Stadt der Bildung gewidmet (wĂ€hrend sie bei uns ja in der Regel der Bank der Industrie und dem BĂŒrgermeister gehören) und Bildung in ihrer reinen Form ist hier ein klarer Vorteil. Mario, unser guide, spricht Englisch, Französisch, Italienisch, ein paar Worte Deutsch und Spanisch. Italienisch hat er in sechs Wochen gelernt (gut, er konjugiert nicht, aber wer macht das hier schon) und wenn jetzt noch mehr Deutsche kĂ€men, sagt er, hĂ€tte er das auch schnell drauf. In Deutschland wĂŒrde er sicher immer noch zur Schule gehen, denn ich schĂ€tze ihn mal auf sechzehn Jahre. Auch ein Krankenhaus ist hinter WĂ€scheleinen und Schlammpfaden mit Hilfe der FID entstanden, getĂŒncht in einem lieblichen Eitergelb, Grundriss geschĂ€tzte 70 mÂČ, bullenheiß, die kleinen Fenster mit Brettern vernagelt. Medikamente bestellt man per Handy und hat sie mit GlĂŒck in einigen Tagen. Mario fischt mit einem Ast ein ChamĂ€leon aus einem Baum und lĂ€sst es ĂŒber meinen RĂŒcken krabbeln. Die kleinen Pfoten krallen ganz schön, aber mit dem Blut kann man wenigstens den Moskitos eine Freude machen. WĂ€hrend die sich schon die LĂ€tzchen anziehen, erlĂ€utert Mario das zwiespĂ€ltige VerhĂ€ltnis zu den ChamĂ€leons. Den meisten Insulanern sind sie suspekt, manche fassen sie nicht an, das kommt wohl daher, dass es unter den ChamĂ€leons, sobald der Sommer naht, ein Ă€hnliches PhĂ€nomen zu beobachten gibt, wie unter den europĂ€ischen Lemmingen: sie begehen Selbstmord, wenn keine Weibchen mehr zu begatten in der NĂ€he sind und keine Fliegen mehr zu finden sind. Dabei hĂ€ngt sich das ChamĂ€leon mit dem Schwanz an einen Ast, wechselt zum letzten Mal die Farbe, schreit „Warum nur?“ und lĂ€sst sich fallen. Man stelle sich ein Ă€hnliches Verhalten beim Menschen vor – unmöglich. Nahrungs- und Frauenkarenz hĂ€tte uns in dem Falle vor dem Comeback der Combo „Modern Talking“ bewahren können, falls es deren Mitgliedern physisch möglich gewesen wĂ€re, sich auf die geschilderte Weise von einem Ast hĂ€ngen zu lassen. Schade eigentlich.  

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Wir haben ein wenig Zeit eine tortue gĂ©ante zu heimeln, die die angebotene Banane ablehnt. Sie wurde von den Seychellen importiert, um den lokalen Faunabestand etwas aufzupeppen, kam uns auch gleich bekannt vor. Die lokale Strahlenschildkröte (astrochelis radiata) ist wesentlich kleiner und lĂ€sst sich gerne mal hochnehmen und knuddeln, dafĂŒr gibt‘s ja schließlich auch Bananen. Nachdem wir einer Gruppe zurĂŒckkehrender Italiener beim Stolpern und Baden im schlĂŒpfrigen Fango zugesehen haben, sehen wir in der Ferne kleine rote Augen im GebĂŒsch. ZunĂ€chst tippen wir auf Markus Söder, aber der hat ja momentan genug damit zu tun, die Schwarzen aus Bayern rauszuhalten (also die FlĂŒchtlinge, nicht die Katholiken). Mit großer Neugier mustert uns eine Lemurenfamilie, die sich mit „Makimakimaki“-Rufen problemlos anlocken lĂ€sst, was allerdings wohl eher an den Bananen liegt. Ein Italiener wird direkt angesprungen und quittiert dies mit den entsprechenden Gesten. Eine kleine pelzige Hand entlockt mir die letzten BananenstĂŒckchen und ein wildes Geschmatze dringt durch den Dschungel. Nach großen Blicken und ausgiebigem NĂ€seln, ob denn alles Essbare gefunden wurde, hasten die Seelen der Toten („les morts“ – „lĂ©murien“) davon. Entgegen der einschlĂ€gigen Lehrfilme tragen sie keine kleinen Kronen oder Baströckchen und tanzen auch nicht zu „I like to move it“.

Mario fischt etwas aus einem gemauerten Bassin, als wir auf dem RĂŒckweg mal wieder auf Massimo warten mĂŒssen. Aha, eine Boa. Als sie lĂ€ngst um meinen Hals baumelt erfahre ich dann, dass es auf Madagaskar keine Giftschlangen gibt. Ein beruhigender Gedanke. 

Im Nachmittag stapfen wir durch die seichte Brandung zurĂŒck zum Boot. Der Indische Ozean ist an den StrĂ€nden von Tsarabanjina nur einer moderaten Tide unterworfen, die tĂ€glich an einem Holzbrettchen angeschlagen wird. Auf unserer dringenden Suche nach Wasserschildkröten stolpern wir auf dem Weg zum SĂŒdstrand fast ĂŒber ein Landschildkrötenbaby, das unsere Begeisterung nur bedingt teilt. 

Am Strand sehen wir uns mit einem der Grundprobleme des Schnorchelns konfrontiert: Meine Frau wird nur am RĂŒcken braun! Wir starten Versuche des inversen Schnorchelns aber aspirieren hĂ€ufig, also quasi bei jedem Atemzug. Also probieren wir es doch wieder mit dem Gesicht nach unten.

Nachdem wir uns mit der Strömung zur presque Ăźle haben treiben lassen, gestaltet sich die RĂŒckkehr gegen die „undertow“ einigermaßen schwierig. Wir wollen schon aufgeben, als meiner Frau doch noch ein verdĂ€chtig stark gemusterter Stein ins Auge fĂ€llt, der sich auf vier Flossen davonmacht. FĂŒr ein kurzes Fotoshooting im „fish mode“ verweilt die Wasserschildkröte dann doch noch in unserer NĂ€he, bevor sie wieder die Weiten des Riffs aufsucht.

Ein letztes Mal ĂŒberlĂ€uft der von Inseln gesĂ€umte Horizont den glutroten Koloss wie eine Ahnung aus einer fernen Zeit und wir mit ihm. Der indische Ozean spĂŒlt rhythmische SĂ€ume der Gleichmut ĂŒber unsere FĂŒĂŸe, die den moskitogeschundenen Überresten eines Axt-Gadermann-Kaninchens Ă€hneln. Hauttyp 3 ist Geschichte, ebenso wie Opferdollars und Lemurenkot, Buckelrinder, MeeresbĂ€der und fantastische SonnenuntergĂ€nge, dann sind wir wieder gerne zu Hause – andere Vögel, andere Affen, dieselbe Sonne. 

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War da noch was?

Aber ja. Am Fascene Airport in Nosy Be tragen wir unser GepĂ€ck erst mal selbst, nĂŒtzt aber nichts, weil uns gleich darauf zahlreiche Mitarbeiter in Uniform um ein „p’tit cadeau“ bitten und zwar so oft, bis wir irgendwann dreinschauen, wie ein Schwein ins Uhrwerk und ganz schön Nerven lassen. Der Einzige, der nichts bekommt, vollbringt das eigentliche Wunder und checkt unser GepĂ€ck auf einem dampfbetriebenen Bambuscomputer von Nosy Be ĂŒber La RĂ©union bis Paris und Frankfurt ein. Was soll ich sagen, vielleicht hĂ€tten wir der Dame bei Lufthansa nur ein p’tit cadeau in Aussicht stellen mĂŒssen. In der gleißenden Sonne des tropischen Flughafens kontrolliert man unser GepĂ€ck besser als jemals zuvor, sogar auf dem Rollfeld werden noch mal provisorische Tische aufgebaut, wobei keiner weiß wieso, nicht mal die Damen und Herren hinter den Tischen.

In Paris wird zwar unser GepĂ€ck problemlos weitergeleitet, wir aber nicht, jedenfalls bekommen wir ums Verrecken keinen Boardingpass. Mit ein wenig mora mora lĂ€sst sich aber auch der organisieren. Wir kommen wohlbehalten in Frankfurt an und auf dem Nachhauseweg liegt – na was wohl – Schnee. 

Zuhause angekommen, fallen wir in den tiefen Schlaf eines tropischen Delir. An uns vorbei ziehen karottensafttrinkende Makis, die nach Ylang-Ylang duften und mit einer Herde ZebukĂ€lbchen vor der immer noch belegten 7 warten, Air Austral Mitarbeiter mit Hauttyp 3, die umherrennen wie aufgescheuchte StrandlĂ€ufer, wandelnde Seelen von SuizidchamĂ€leons mit unserem Pass, die ein p’tit cadeau gegen Post-its in Pink und GrĂŒn tauschen, das Axt-Gadermann-Kaninchen, welches sich mit einer Wasserschildkröte paart (ziemlich sicher fady) – und irgendwo auf einer kleinen Insel streicht ein junger Mann zwei weitere Quadratmeter Wand

– mora mora, Mann!

Ein Kommentar

  1. Vielen Dank Herr Schlimmer fĂŒr diesen sehr amĂŒsanten und wirklichkeitsnahen Reisebericht! Ich hab ihn mit ein paar Bildern dekoriert und hoffe, dass Sie damit einverstanden sind!

    FĂŒr alle Leser die sich das VergnĂŒgen gegönnt haben diese Reise nachzuvollziehen: man kann Madagaskar auch ohne Anreiseprobleme erreichen! Und eines ist sicher: wer nach Madagaskar gereist ist, hat etwas zu erzĂ€hlen.

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