Herzlichen Dank an unseren Gast Nils Schlimmer, der uns erlaubte den Bericht ĂŒber seine Madagskarreise hier zu veröffentlichen
Mora mora
âMora moraâ bedeutet in Malagasy so viel wie âdoucementâ, eben: ânichtâ aufregen, Bruderâ. So sitze ich zum Beispiel gerade an der WestkĂŒste der kleinen Insel Tsarabanjina im Indischen Ozean und sehe einem jungen Mann zu, der eine Wand weiĂelt. An sich nichts dabei, allerdings beschrĂ€nkt sich diese nahezu liebkosende BedĂ€chtigkeit in der letzten Stunde auf geschĂ€tzte zwei Quadratmeter Putz. Die Nacht wird beide einholen und die letzte spĂ€rliche Reflexion des blendenden WeiĂ verschlucken – und wenn schon. Auch morgen wird es WĂ€nde, Sonne und weitere zwei Quadratmeter Wand geben – mora mora, Mann!
Etwas passende Musik:
Im modernen Gesundheitswesen heiĂt mora âStĂŒckzeitakkordâ, auch wenn es keiner zugibt. Mit einem regelmĂ€Ăigen Feierabend zumindest sollte man sich schon deshalb nicht anfreunden und so gerĂ€t unsere Urlaubsvorbereitung in der Regel zu einem allabendlichen hinterlistigen BeiĂen und Stechen zwischen sĂ€mtlichen Freudâschen Instanzen und dem bereits in Ă€lteren Reiseberichten hinlĂ€nglich umrissenen Morpheus.
Auch dieses Mal ist es nicht anders. PĂŒnktlich zur dunkelsten Jahreszeit erreicht uns der Katalog der âTrauminsel Reisenâ, eine Vanilleschote als kleine zusĂ€tzliche Motivation anbei. Da mĂŒssen wir natĂŒrlich hin. Aber wo ist dieses âdaâ? Wo ist der Ort, der hĂ€lt, was eine sĂŒĂe Ahnung verspricht, die sich nun vollkommen unkonkret aber pochend in den Frontallappen gepflanzt hat?
Ăber die Jahre haben wir ein ausgesprochen romantisches System der Urlaubszielfindung erarbeitet, welches auf tiefem gegenseitigem VerstĂ€ndnis, unablĂ€ssiger Kommunikation und dem Miteinander (der Seele einer Ehe) beruht. Diese anthroposophische Sternstunde spielt sich dergestalt ab, dass meine Frau – wenn sie mal zu Hause ist – rosa Post-its an ihre Wunschziele im Katalog anbringt und ich – wenn ich denn mal zu Hause bin – grĂŒne. Dort, wo die Klebchen sich treffen, wird hingefahren ohne zu motzen – Schluss, aus, Ende.
TatsĂ€chlich finden ein grĂŒnes und ein rosa Post-it ein Stelldichein auf dem Mutterland der Vanilleschote – als hĂ€tten sieâs gewusst. Wir fahren dorthin, wo der Pfeffer wĂ€chst: nach Madagaskar. Genauer gesagt haben wir uns fĂŒr Nosy Tsarabanjina entschieden, ein Name wie eine Beschwörung aus einer fremden Welt. Auf Malagasy sagt er alles: âNosyâ steht fĂŒr Insel (im Mitsio-Archipel an der NordostkĂŒste), âtsaraâ bedeutet âschönâ und âbanjinaâ so etwas wie âAussichtâ.
Weniger schön erscheint uns die Aussicht, aus dem deutschen Februar anreisend, wieder ein Formvorderschinkendisplay Ă la Seychelloise abzugeben, bevor uns die ersten tropischen Sonnenstrahlen erneut in einen Römertopf verwandeln. Wir tragen uns mit dem Gedanken, ein Sonnenstudio zu besuchen und lesen im Dermatologenfachblatt âFit-For-Funâ, dass das wohl nichts bringt, da die UVB-Bank offenbar nur den bereits vorhandenen Melanozyten die Pistole auf die Brust setzt und ihnen ihr im deutschen Winter bitter angespartes Melanin auspresst, wĂ€hrend eine Proliferation der Oberhaut offensichtlich ausbleibt. Die âFit-For-Funâ-Expertin Dr. Axt-Gadermann (im Nebenberuf Dr. Sommer) weist zwar auf Studios hin, die eine âechte BrĂ€uneâ lieferten, rĂ€t aber von diesen wegen des Hautkrebsrisikos ab. Also doch Römertopf? Nein, auch dafĂŒr ist laut Expertenrat eine Lösung gebacken: Karottensaft! In der Tat. Schon ab grob geschĂ€tzten fĂŒnf Kubik beginnt die Farbstoffeinlagerung in Haut und Skleren, was dann definitiv vor Sonnenbrand schĂŒtzt – ein Kaninchen mit Sonnenbrand ist mir auch tatsĂ€chlich nie untergekommen. Zur Vermeidung jeglicher Insolation schlieĂen wir uns daher ab Ende Januar im Keller ein und ernĂ€hren uns ausschlieĂlich von Karottensaft, bis wir den PrimĂ€raspekt Twilightsaga erreicht haben. Gut, der Postbote und der Pizzalieferant haben jetzt Angst vor uns aber wie schön es doch ist, gefĂŒrchtet zu werden. Als uns immer mehr Kollegen raten, doch einmal unsere Leberwerte checken zu lassen, brechen wir das Experiment schlieĂlich ab und stellen uns bei einem Sonnenstudio vor. Wir verwirren die freundliche Aushilfskraft mit Schilderungen vom Axt-Gadermannâschen Twilight-Kaninchen ohne Sonnenbrand und finden ĂŒber ein elaboriertes multiple-choice-System heraus, Hauttyp 3 von 4 zu besitzen. Doch damit nicht genug. Kaum eine Woche spĂ€ter empfĂ€ngt uns im nĂ€chsten Studio derselben Kette eine junge Dame, von der ich zunĂ€chst annehme, sie trĂŒge eine Ganzkörperledermontur, bevor mir bei nĂ€herer Betrachtung klar wird, dass es sich hier um die vielbeschiene proliferierte Oberhaut handelt… Nun scheint die Sonne in diesem Studio sehr intensiv zu wirken und auch die SchĂ€deldecke zu durchdringen, anders kann ich mir die im Folgenden unverfĂ€lscht wiedergegebene Konversation nicht einmal ansatzweise erklĂ€ren:
– Seid ihr no-hoi?
– Nein, wir waren schon mal da, aber im Nachbarort.
– Aber hier no-hoi? Dann mĂŒsst ihr das hier ausfĂŒllen.
– Das haben wir schon, wir haben Hauttyp 3. (… auf einer Skala, die mit Ihnen – 10 – abschlieĂt)
– Woher wisst ihr das?
– Wir waren schon mal da, aber im Nachbarort.
– Aber hier noch nicht?
– Nein, aber genau das haben wir ausgefĂŒllt. Wir haben Hauttyp 3.
– Könnt ihr das dann bitte ausfĂŒllen…
– Wir… ach, scheiĂ drauf.
Wir machen beide einen Kringel um die zartocker grundierte 3. Nach eingehender PrĂŒfung unserer Bögen blickt sie uns erst einmal wortlos an.
– Woher wisst ihr das?
– Ăh, genau das haben wir schon einmal ausgefĂŒllt. Wir haben Hauttyp 3.
Wort- und gedankenlos faltet sie meinen Bogen um sich dem meiner Frau zu widmen.
– Auch drei?
– Mmh, 3. Haut – Typ – Drei. Drei. Welche Sonnenbank nimmt man denn da?
– Die sind alle frei… AuĂer die sieben, die ist belegt.
– Und welche empfehlen Sie?
– Ja, also die sieben nicht, die ist belegt.
– Ach was. Ich meine, fĂŒr mittlere BrĂ€une…
– Das hĂ€ngt vom Hauttyp ab.
– Drei.
– Du auch?
– Ja, auch drei. (…zum Geier noch eins)
– Da könnt ihr eigentlich alle nehmen. AuĂer der sieben…
– Die ist belegt.
– Ja, stimmt.
– Dann nehmâ ich die fĂŒnf.
– Die iss aber boost.
– Das heiĂt?
– Die isâ stĂ€rker.
– Also lieber nicht?
– HĂ€ngt vom Hauttyp ab.
– Drei.
– Du auch?
– Ja, Herrgott!
– Dann geben Sie mir die vier.
– Da muss man den Hauttyp einstellen.
– Drei.
– WeiĂ ich doch. Und Du?
– Ich nehmâ dann die sieben.
– Die ist belegt.
Letztlich kann nicht einmal die fachgerechte Beratung verhindern, dass unsere betacarotingeschwĂ€ngerte Haut nun auch noch erstgradig verbrannt aussieht – und wieder kommen Zweifel hinsichtlich unseres Gesundheitszustandes auf. âMann seht ihr scheiĂe aus.â âEntweder das oder Fit-For-Fun-bunny im Römertopf!â âDu hast doch auch nâ mega Sockenschuss!â âWas soll ich sagen, ein Leben mit Hauttyp 3 ist kein Zuckerschlecken…â
Bis auf die erwĂ€hnten kleinen Unannehmlichkeiten verlĂ€uft die weitere Planung dann problemlos, abgesehen von der Frage der Malariaprophylaxe, die wir lange hin und her wĂ€lzen, bis wir genug Erfahrungsberichte beisammen haben, die von unangenehmen krankheitsĂ€hnlichen ZustĂ€nden durch die Prophylaxe selbst handeln, weshalb wir uns fĂŒr die Mitnahme von Stand-by-Medikamenten entscheiden. Als einzige prophylaktische MaĂnahme ziehen wir uns auf die Ăberschwemmung unseres Interstitialraumes mit Gin Tonic zurĂŒck, den wir uns ehrlich teilen: Ich den Gin, meine Frau das Tonic.
Nach gut einer Woche ist dann alles fĂŒr den Abflug bereit, vieles davon sogar bereits im Koffer, höchste Zeit, denn morgens geht es los. Unauffindbar ist nur das einzige GepĂ€ckstĂŒck, das den Abflug aller anderen, inklusive uns zu verhindern vermag: der Reisepass. Die Reisepassecke meiner Frau befindet sich rechtsobenhinten in der oberen Schreibtischschublade und dort ist er nicht. Eine unterschwellige, dann schwellige und schlieĂlich superschwellige Panik breitet sich aus. Mit dem Personalausweis werden die Afrikaner wohl nicht zufrieden sein, schlieĂlich brauchen wir ein Visum. Wie wir noch erfahren, hĂ€tte sich das wohl alles finanziell regeln lassen, aber dazu spĂ€ter mehr.
Realistisch haben wir jetzt, um 21 Uhr, etwa zwölf Stunden fĂŒr die IdentitĂ€tssuche und Selbstfindung, bis die ganze Reise ausfĂ€llt. Wir krempeln also das Zimmer um, doch der Pass bleibt verschollen. Das freundliche Angebot ihres Vaters, sie möchte doch seinen Pass mitnehmen, da er ihn momentan nicht brauche, löst bei meiner Frau nicht die erhoffte RĂŒckkehr zur Leichtigkeit aus, eher ein genervtes Grummeln. Am Ende unserer Suche kehren wir zu deren AnfĂ€ngen zurĂŒck und hypothetisieren, dass es die IKEA-Bauweise durchaus zulĂ€sst, dass Objekte innerhalb des Möbels verlustig gehen. Nach der Entnahme der Schublade liegt er vor uns, der abtrĂŒnnige Kamerad, ohne den keiner von uns gereist wĂ€re. Ich nehme ihn in die Hand und mustere ihn: âDer ist abgelaufen.â Als ich die entgeisterte Reaktion meiner Frau registriere, löse ich schnell auf: âNeeh, war nur SpaĂ!â. Irgendwie ist ihr so gar nicht zum Scherzen zumute und ich vermeide den Rest des Abends originelle Bemerkungen, denn ich weiĂ, was gut fĂŒr mich ist.
Abfluch
Es liegt Schnee, dennoch kommen wir rechtzeitig bei der Autoaufsicht am Flughafen an. Tor sieben wird uns eingeblÀut, da sollen wir in zwei Wochen wieder sein. Ich frage mich, ob die sieben immer noch belegt ist, verwerfe den Gedanken aber wieder.
Air Austral hat aber schon die perfekte Lösung des Problems fĂŒr die nun aufgescheuchten FluggĂ€ste parat. Eine (wie alle folgenden) lediglich in gemurmeltem Französisch dargebotene Durchsage informiert uns, dass wir nun doch nicht (wie vorgesehen) alle aussteigen sollten, sondern diejenigen, die ein kostenloses Abendessen zu sich nehmen wollten, dies hier im Flugzeug tun könnten (auf ihren PlĂ€tzen), wĂ€hrend die anderen aussteigen sollten, wodurch das Durcheinander noch heilloser wird.
Uns steht nicht der Sinn danach, in der gestrandeten Maschine ein Flugzeugessen zu uns zu nehmen, ohne zu wissen, wie es denn nun weitergehen soll. Wir verlassen die Maschine. DrauĂen bilden sich diejenigen Menschentrauben um die Schalter, die wir in den nĂ€chsten insgesamt dreiundfĂŒnfzig Stunden noch öfter sehen werden. Die Crew der Air Austral wurde von den Vorkommnissen offenbar ebenso ĂŒberrascht wie wir. Die drei (!) abgestellten Stewardessen sind heillos damit ĂŒberfordert, die insgesamt 442 Passagiere erst einmal zu dirigieren. Alle paar Minuten ergeht eine PlanĂ€nderung per Durchsage auf Französisch, von der viele kein Wort verstehen. Die erste Stunde wird damit zugebracht, EinzelgesprĂ€che zu fĂŒhren und drei (!) Business-Class Passagiere auf einen Parallelflug nach Mauritius umzubuchen, der aber ansonsten voll ist. Das sorgt fĂŒr gute Stimmung am Gate und die ersten Economisten werden ausfĂ€llig. Findige SouvenirhĂ€ndler stellen auf Mistgabeln und Fackeln um. Ich schleiche von einem Schalter zum anderen, um wenigstens aus den einzelnen Konversationen ein paar Erkenntnisse zu ziehen. Nach einer guten weiteren Stunde werden alle Passagiere, die nicht umgebucht wurden, gebeten sich vor dem MacDonalds 9 Gates weiter (!) einzufinden. Dieser ist hierfĂŒr kaum geeignet, da mit Kunden gefĂŒllt und nur durch einen schmalen Korridor vom nĂ€chsten Gate getrennt. Von weiterem Air Austral Personal fehlt jede Spur und die Diskussionen werden hitziger. Vor dem MacDonalds warten wir etwa eine dreiviertel Stunde ohne weitere Anweisungen. Ich pendele jeweils zwischen dem MacDo und dem neun Gates weiter gelegenen Schauplatz der nicht enden wollenden Diskussionen ĂŒber die AnschlussflĂŒge. Hier wird mir schlieĂlich mitgeteilt, wir sollten unser GepĂ€ck doch wieder abholen, es wĂŒrde nun ausgeladen und sei eine Etage tiefer empfangsbereit. Auf meine Frage, ob die Leute bei MacDonalds das denn auch wĂŒssten, versucht sich eine Mitarbeiterin dorthin durchzuarbeiten, wird aber immer wieder aufgehalten. SchlieĂlich dringt die Information als stille Post durch und die Passagiere setzen sich in Bewegung. Am GepĂ€ckband angekommen steht dieses still, von Air Austral fehlt jede Spur. Nach einer weiteren dreiviertel Stunde tauchen dann Crewmitglieder auf, die uns mitteilen, unser GepĂ€ck wĂŒrde nun doch nicht ausgeladen, um den Weiterflug zu vereinfachen. Wann dieser allerdings stattfindet (morgen womöglich bereits?) kann uns keiner sagen. Die Information, man solle sich auĂerhalb der Sicherheitszone am Air Austral Schalter melden, um ein Hotelvoucher fĂŒr die Nacht zu erhalten, dringt durch. Diejenigen FluggĂ€ste, die ihre Koffer benötigten, möchten sich bitte melden. Wir melden uns. Nicht nur, dass es wenig verlockend erscheint, morgen in denselben, inzwischen wenig ansehnlichen Klamotten wieder zu erscheinen, im Koffer haben wir auĂerdem unsere Medikamente.
Nachdem sich immer mehr Passagiere melden, kommt Seitens der Crew die Frage auf, ob man denn die Koffer wirklich brauche. Eine inquisitorische Grundhaltung entwickelt sich, in der ich recht kritisch gemustert werde, als ich mit unserem GepĂ€ckschein an der Reihe (sofern man innerhalb einer weiteren Traube von GepĂ€ckheretikern von Reihe sprechen kann) bin. Ob das denn wirklich nötig wĂ€re, unsere Koffer auszuladen. Ja, meines Erachtens schon. Mit einzelnen Passagieren werden auch die Details besprochen, also was der Koffer denn enthalte und ob man dies oder jenes wirklich brauche. Die Koffer der Crew sind inzwischen schon ausgeladen. Die GepĂ€cknummern der aus dem Flugzeug zu holenden GepĂ€ckstĂŒcke werden per (mehrfach ausfallendem) Mobiltelefon an die Verantwortlichen ĂŒbermittelt. FĂŒr eine weitere Stunde steht das GepĂ€ckband still, die einzigen, die sich in dieser Situation ĂŒberhaupt mit uns befassen, sind die beiden Zöllnerinnen, die – mangels GepĂ€ck -natĂŒrlich gerade nichts zu tun haben und wenigstens Smalltalk halten. Momentan ist uns zum Aufgeben zu Mute und wir schmieden konkrete PlĂ€ne fĂŒr eine RĂŒckkehr mit dem TGV, glĂŒcklicher Weise kommt uns beiden dieser Gedanke nicht zur selben Zeit, sonst hĂ€tten wir wohl auf den Urlaub verzichtet.
Inzwischen ist die Stimmung so aufgeladen, dass einige Passagiere beginnen, die Ăberforderung des Personals per Handykamera zu dokumentieren, wobei ein Herr zur Herausgabe seines Handys aufgefordert wird – unter Drohung mit der Polizei.
SchlieĂlich erhalten wir unsere Koffer und StĂŒrzen uns in die nĂ€chste Traube fĂŒr das Voucher. Dort erleben wir wĂŒtende Franzosen, die ihren Flug komplett stornieren und quasi per Videobeweis dokumentieren wollen, dass ihnen (auch jetzt kurz vor Mitternacht) noch keiner sagen kann, ob und wann ein Ersatzflug stattfindet (von AnschlussflĂŒgen ganz zu schweigen). Auch ihnen wird mit der Polizei gedroht. Wir setzen auf Konfliktvermeidung und holen uns unsere IBIS-Vouchers fĂŒr die Nacht ab. Mit dem Flughafenzug gelangen wir dorthin und stehen – bei 5 Grad und Nieselregen – vor verschlossener TĂŒr. Aus SicherheitsgrĂŒnden ist nachts hier nur die HintertĂŒr geöffnet, auch wenn ca. 60 Personen pro Hotel gleichzeitig von einem stornierten Flug eintreffen. Unser KleingrĂŒppchen zieht um das Hotel. Ich bewundere ein kleines afrikanisches MĂ€dchen, das die stĂ€ndigen
RichtungsĂ€nderungen mit stoischer Ruhe ertrĂ€gt, obwohl klar ist, dass es heute nicht nach Hause kommen wird. Im IBIS die nĂ€chste Traube und die sich verdichtende Erkenntnis, dass hier fĂŒr heute Endstation ist. Nachdem wir unser GepĂ€ck ĂŒber die fleckenĂŒbersĂ€ten Achtzigerjahreteppiche nach 523 gerollt haben, festgestellt haben, dass der SchlĂŒssel bei dieser ZimmergröĂe TĂŒr und Fenster gleichzeitig schlieĂt und die MĂ€use einen Buckel haben, versuchen wir noch etwas Essbares zu finden. FĂŒnf Minuten vor Toresschluss ergattern wir einen Salat und ein Sandwich sowie zwei Miniaturausgaben Les Jamelles im hoteleigenen Kiosk und werden in die Lobby gescheucht – Feierabend. FĂŒr heute hat man uns nur mitgeteilt, dass es morgen ab 6 FrĂŒhstĂŒck geben wĂŒrde und wohl weitere Informationen.
Duschen eingerechnet werden wir in diesem luxuriösen Ambiente also mit GlĂŒck zwei Stunden schlafend verbringen. So ist es auch.
Der nĂ€chste Morgen. Traube am Bus. Bus zu klein. Aussteigen. Neuer Bus. Zwanzig Minuten VerspĂ€tung. Montagmorgenstau auf der KĂŒstenstraĂe nach St. Denis, hatte keiner mit gerechnet. Insgesamt fahren wir zwei Stunden Bus. Das boarding ist jetzt offiziell vorbei. Wir hechten an den Schalter. Ein kleines MĂ€dchen vor uns schlĂ€ft auf dem Koffer, den der Papa wieder aufzugeben versucht. Ich kann sie verstehen. Am Schalter gute Neuigkeiten. Unser GepĂ€ck wird direkt weitergeleitet. Wir mĂŒssen es in Mayotte nicht abholen. Haltmal… Mayotte? Ja, wir fliegen ĂŒber Mayotte. Dort nochmal boarding nach Nosy Be. Das kann ja wohl nicht wahr sein. Doch, es gibt keinen Direktflug. Verdammt. Routiniert weiter. Vierte Sicherheitskontrolle seit Frankfurt. Eineinhalb Stunden dorthin, wo wir etwa herkamen. Eineinhalb Stunden schreiendes afrikanisches MĂ€dchen vor mir. So langsam ist Sense. Mayotte, die Frisur sitzt. Wieder raus. Neue Bordkarte. Wieder rein.
Boarding. Bus. Der fĂ€hrt genau zweihundert Meter bis zur einzigen Maschine auf dem Rollfeld. Holprige knappe Stunde bis Nosy Be. Ein Schweizer vor uns will Euro gewechselt haben. Möglichst klein. Von mir aus. Auf Nosy Be passt zwischen Palmen, HĂŒtten und Meer eine Landebahn.
Da. 53 Stunden nach dem Nieselregen. Wie viele Leidensgenossen mögen wohl das Strandtuch geschmissen haben?
Un pâtit cadeau?
Zu unserem Hochgenuss ist auch unser GepĂ€ck angekommen. Vom GepĂ€ckband trennt uns die sehr improvisiert wirkende Landesgrenze des Staates Madagaskar. Visum. Am wichtigsten ist es, dass die 25 ⏠p.P. ĂŒber die Theke gehen. Ein kleines Kunstwerk aus Visum, Stempel und Signaturen wird in unseren Pass kalligraphiert. Durchaus sein Geld wert. Zur Passkontrolle bitte. Aber wir haben doch eben…? Komm, einmalnichdrĂŒbernachdenken, zweimalnichdrĂŒbernachdenken… Ja, alles in Ordnung, das Visum ist da. Es hat die ZweimeterfĂŒnfzig von seiner Ausstellung bis zur Kontrolle gut ĂŒberstanden. Die Einreisebeamte nickt, behĂ€lt unsere PĂ€sse und lĂ€chelt freundlich – fĂŒr meinen Geschmack etwas zu freundlich und etwas zu lange. Sie murmelt etwas durch das Gals und ich könnte schwören das Wort âcadeauâ gehört zu haben, wenn es nicht so abwegig wĂ€re. Ich frage nach und nochmal nach, weil ich es nicht glauben kann. Die Grenzbeamtin will Trinkgeld. Meine Frau ĂŒberspringt im Geiste die nĂ€chsten Schritte, in denen ich meine Affenwut kriege und eine Diskussion vom Zaun breche, knufft mich und sagt: âDie hat unsere PĂ€sse.â HĂ€tte ich dem Schweizer nur nicht meine ganzen kleinen Euros gegeben. Der war offenbar schon mal hier. Wir lassen unsere zur Zeit wankende (hier superstabile) GemeinschaftswĂ€hrung rĂŒberwachsen und nehmen mit einem Bitterlemongesicht unsere PĂ€sse wieder entgegen, Stempel inklusive. Wir mĂŒssen dann noch ĂŒber die Visakontrolle. Issjawohlein Scherz. âWenn der jetzt auch noch Trinkgeld will, kommen wir heutâ Abend in den Nachrichten!â âReiĂ dich zusammen!â Nein, der ist ganz harmlos, der will nur gucken. Zoll. Klar. Zoll. Prima. Koffer bitte hochwuchten. Mach ich. Was zu deklarieren? Nö. Dann isâ gut. Koffer bitte wieder runterwuchten. âWollen die mich verĂ€ppeln?â âBleib ru-hu-hiiiig.â
DrauĂen bricht mir erst mal der SchweiĂ aus und irgendwer nimmt mir meinen Koffer weg. Hoffentlich gehört der zum Hotel. Tut er nicht. Will aber nur 2 $ fĂŒr fĂŒnf Meter Koffer tragen. Prima. Auch sonst allerlei fahrendes Volk unterwegs. Eine Voyante bietet ihre Dienste an. âVotre chance, Monsieur?â
âNein, zu spĂ€t, Madame! In Paris, da hĂ€tte ich Sie gebraucht! Na, wo waren Sie denn da? HĂ€h?â Meine Frau zieht mich weiter. Wir werden erwartet und steigen in einen alten Hyundai. Quer durch Nosy Be geht die Fahrt auf einer Buckelpiste aus Sand und PfĂŒtzen (ist ja grade Regenzeit). Unser Fahrer hat mitbekommen, was sich so zugetragen hat und fĂŒhlt sich irgendwie verantwortlich.
SpĂ€testens als wir das erste ChamĂ€leonpĂ€rchen sehen, hebt sich unsere Laune merklich. Auge in Auge stehen wir uns gegenĂŒber, wobei mir nicht klar ist, wo mein schuppiger Freund eigentlich hinschaut. Ich lasse ihm mein head-and-shoulders ProbepĂ€ckchen und wir holpern weiter. Gern wĂ€ren wir in einem Dorf ausgestiegen, aber das ist nicht. Hier sind heute alle festlich fĂŒr eine Beerdigung, lieber keine Touris.
Vergeblich suchen wir einen Bootsanleger und werden gewahr, dass es hier nur einen groĂen Anleger gibt. Die Einheimischen nennen ihn Strand. Wir legen die Turnschuhe ab und krempeln die Langen Jeans hoch. Also los. Als wir zwischen Nosy Be und Nosy Komba (Heimat der Lemuren) hindurchschippern, haben wir das GefĂŒhl, als könne der Urlaub nun losgehen. In der Ferne zeichnet sich im Dunst ein Eiland mit einer markanten Landzunge und einem hĂŒgeligen RĂŒcken ab, wie eine Beschwörung aus einer fremden Welt – Tsarabanjina.
Tsarabanjina ist so klein, dass sich auf âGoogle mapsâ keine Landmasse gegen den indischen Ozean abgrenzen lĂ€sst. Lediglich der Schriftzug der Constance Lodge lungert verloren im Google- Meeresblau herum. Nach einer Begehung der KĂŒstenlinie, bestehend aus dem Nordstrand, an dem wir wohnen, dem Oststrand (einem unbebauten kleinen StĂŒckchen Insel), dem SĂŒdstrand und dazwischenliegenden Felsen konstatiere ich 2700 Meter KĂŒstenlinie. Da reicht schon eine hohe Welle… Der letzte Zyklon (â die Leute mit dem einem Auge) suchte die Insel 2013 heim. Wir setzen auf einen Vierjahresrhythmus und bleiben ruhig. TatsĂ€chlich ist das Klima in den einzelnen Teilen Madagaskars sehr unterschiedlich, wird uns erklĂ€rt. In Tana (kurz fĂŒr die Hauptstadt Antananarivo, weil das keiner aussprechen kann und will) kann es wegen der Lage auf ĂŒber 1000 Metern ziemlich kalt werden. Jenseits der zentralen Bergkette an der OstkĂŒste sind regenlose Jahre durchaus möglich, wĂ€hrend es im Nordosten im hiesigen Sommer oft regnet (zu unserem Erstaunen nur nachts).
Tsarabanjina hat sein eigenes (sehr unwetterarmes) Mikroklima und – mit MEZ +3 – eine andere Zeit als die Hauptinsel, die auch gerne der achte Kontinent genannt wird (fĂŒr alle die nachrechnen: Antarktis nicht vergessen!). So verschieden wie die Klimazonen sind auch die Menschen, die sich in ihnen tummeln. Wir bekommen eine Geschichtsstunde von Ramiandrisoa Hery Gedeon, der uns zunĂ€chst mal seinen Namen erklĂ€rt: lâhomme qui attend toujours le bien. Selbst Nosybeaner, organisiert er TagesausflĂŒge zu benachbarten Inseln im Auftrag der Na- und Kultur. Den einen
Heute gehört Madagaskar zu den zwanzig Ă€rmsten LĂ€ndern der Welt – und das leider ohne Not. Dabei gibt es hier auch so etwas wie schlechtes Karma, nicht in dem Sinne als SpĂŒlmittelflasche oder kleine schwarze Olive wiedergeboren zu werden, aber das Konzept der Seele (daher Animismus) ist ein ganz besonderes. Nicht nur, dass von einem Fortbestehen der Seele ausgegangen wird, diese âlebenden Seelenâ sind omniprĂ€sent. Falsche Handlungen können die eigene und/oder die umgebenden Seelen krĂ€nken und das Schicksal verschlechtern. Daher existieren sogenannte âfadyâ, Ge- und Verbote fĂŒr ein anstĂ€ndiges Leben – dann klapptâs auch mit den Seelen. Das malgache âaza fadyâ bedeutet so viel wie âEntschuldigungâ oder âmöge es kein fady seinâ.
Nach einer Weile des Kraxelns um das Halbrund haben wir keine GrĂ€ber entdeckt. Ich entschlieĂe mich, ĂŒber eine kleine Schneise zu hĂŒpfen, wĂ€hrend meine Frau zurĂŒckgeht. Irgendwo mĂŒssen die doch liegen. Ich gebe entnervt auf. Den Opferdollar, den ich mangels Rum (und Zebus) eingesteckt habe, klemme ich symbolisch in eine Felsspalte.
âLauf! Er hat mich gehen lassen.â – âWer?â – âDie wandelnde Seele… isâ doch jetzt egal. Wir haben aus Mitleid sogar den Dollar zurĂŒckbekommen.â – âNa gut, ich frag schon nicht mehr.â Völlig durch landen wir schlieĂlich in der Bar. Darauf erst einmal einige Gin Tonic ohne Tonic. Zum ersten Mal genieĂen wir die Freuden eines all-inclusive Urlaubs. Die zu allen Himmelsrichtungen offene Bar mit Restaurant im Westen der Insel wird von krĂ€ftigen BaumstĂ€mmen gehalten die – das ist hier durchaus nicht gewöhnlich – auf einem zementierten Fundament lagern. Ihre breite Treppe wird von kokosnusstragenden Palmen gesĂ€umt, der Boden besteht aus feinstem Sand. Hier lĂ€sst es sich aushalten. Oben im Restaurant serviert man uns allabendlich, was die Fischer am Tage heimbringen und das ist von ausgesuchter QualitĂ€t. Einen KĂŒhlschrank braucht es kaum, da der Fisch quasi aus dem Meer auf den Grill kommt und auch ungegrillt genieĂbar ist. AuĂerdem wird uns das Wappentier der Insel serviert, das Zebu. Die KĂŒhe mit dem Buckel sind eine Herzenssache der Malgaches, ohne sie wĂ€re kein Feld bestellt, kein madagassischer Magen gefĂŒllt und der Transport zwischen den Ărtchen auf den ebenso buckeligen Sandpisten eine Qual. Selbst die madagassische FuĂballnationalmannschaft ist nach ihnen benannt. Schade also, dass es das Zebu nur auf den 500 Ariary-Schein geschafft hat. Ein Politikum, ĂŒber das sich Rami trefflich aufregen kann. Er drĂŒckt mir bei einem unserer GesprĂ€che eine ganze Handvoll Ariaryscheine (im Gegenwert von nicht mal 5 âŹ) in die Hand und hadert. Das Zebu kommt schlecht weg als Motiv, auch die Lemuren. Auf dem 10.000 Ariaryschein findet sich dagegen ein Piktogramm eines realexistierenden StraĂenarbeiters, der groĂe Genugtuung ĂŒber die erfolgreiche Fertigstellung des madagassischen StraĂennetzes empfindet, zu Ehren des PrĂ€sidenten und vom Stil her durchaus dem Ostblock vor 1980 zuzuordnen. Dass das wichtiger sein soll als das Zebu, das geht gar nicht. Die Zehntausendernote (etwa 3 Euro) heiĂt ĂŒbrigens âune nuitâ, nicht nur, weil die Landbevölkerung Zahlen in dieser GröĂenordnung nicht auszusprechen gewöhnt ist. Ob es nun eher der Gegenwert einer Nachtschicht oder einer ganz anders gearteten NachtbeschĂ€ftigung ist, lĂ€sst unser Freund mit einem verschmitzten LĂ€cheln offen, es heiĂt eben âune nuitâ, basta. Zebufleisch ist davon abgesehen eine wahre Offenbarung und sehr zart. Hier wird es in einer Pfeffersauce serviert und ich habe das GlĂŒck, noch ein zweites zu bekommen, nĂ€mlich das meiner Frau, nachdem ich Bilder von sĂŒĂen ZebukĂ€lbchen gegoogelt habe, und ihr der Appetit vergeht. Auch madagassischen Wein aus âTanaâ probieren wir, worĂŒber sich Issa, unser Sommelier sehr freut. Wir finden, er schmeckt wie Elbling, aber das nimmt Issa erstmal als Kompliment.
Als die Nacht hereinbricht, versammelt man sich zu madagassischer Folklore am Strand. Ebenso wie die Tatsache, dass man bei diesen Temperaturen eine solche Frequenz trommeln kann, ĂŒberrascht es uns, dass wir PizzahĂ€ppchen gereicht bekommen – mit Serrano. Sogleich lernen wir Massimo und seine Frau kennen, die uns aufklĂ€ren, dass Madagaskar tourimĂ€Ăig fest in italienischer Hand ist. In der Tat gibt es einen Direktflug aus Mailand – das wĂ€râs gewesen! Neunzig Prozent der GĂ€ste sprechen italienisch und die Madagassen auch – flieĂend und besser als Französisch. Ich gebe zu verstehen, dass ich italienisch nur mit den HĂ€nden spreche und vollfĂŒhre einige einschlĂ€gige Gesten der jahrelangen Erprobung. Aufgrund des fortgeschrittenen Alkoholpegels geht das aber in Ordnung. Wir verabschieden uns, denn morgen geht es frĂŒh los…
Nosy Komba
Wer in den Trickfilmen richtig aufgepasst hat, dem ist klar, dass es neben Pinguinen auf Madagaskar natĂŒrlich auch Lemuren gibt. King Julien wollen wir natĂŒrlich mal gesehen haben und heuern um acht Uhr dreiĂig zur eineinhalbstĂŒndigen Ăberfahrt an. Rami sitzt neben mir und erörtert die madagassische Ăffentlichkeit. Seinen FĂŒhrerschein hat er verloren. Wenn er den jetzt wiederhaben will, muss er quer ĂŒber die Insel nach Tana. Zwar gibt es Flugzeuge, wenn er aber den konventionellen Weg wĂ€hlt, ist er unter UmstĂ€nden Tage unterwegs, da muss er einen Sack Reis mitnehmen (da es auf dem Weg keine Restaurants oder SupermĂ€rkte gibt). Angekommen mĂŒsste er dann aus einem groĂen Regal der in 2011 ausgestellten FĂŒhrerscheine seinen heraussuchen – er selbst und ohne Computer. Das kann durchaus Tage dauern. Was er stattdessen macht, will ich wissen. Er lĂ€sst eben bei der FĂŒhrerscheinkontrolle ein paar Ariary rĂŒberwachsen. Die bekommt natĂŒrlich der Polizist. Da könnte ich Geschichten von der Grenze erzĂ€hlen, aber gut… Rami fĂ€llt mir ins Wort. Einmal, so berichtet er, hat sich ein befreundeter Polizist, als fĂŒr eine anstehende Party Ebbe in der Kasse herrschte die nötigen Bestechungs-Ariary in kĂŒrzester Zeit zusammenkontrolliert. In Personalausweisen wird in der Regel beim Geburtsdatum eingetragen âim FrĂŒhjahr 2016â – wenn Mutter und Kind die Geburt gut ĂŒberstehen. DreiĂig Prozent perinatale Sterblichkeit, nein, nicht in Tana, wo die meisten hingehen, die es sich irgendwie leisten können, sondern hier. Das Gesundheitswesen beruht auf dem Selbstzahlerprinzip. Eine Anamnese, Statuserhebung und ein Rezept kosten âune nuitâ, wer nicht zahlen kann nimmt HeilkrĂ€uter oder geht ein wie eines.
Wir erreichen die KĂŒste. Die Inselhauptstadt Ampangorina liegt vor uns. FrĂŒher wurde hier Zuckerrohr zu Rum destilliert, der Name der Stadt trĂ€gt dem heute noch Rechnung, obwohl es kein Zuckerrohr mehr gibt. Auch Reis wird nicht mehr angebaut, seit zu viele Mangroven den AnbauflĂ€chen zum Opfer fielen. Doch nicht nur die Tage von Onkel Ben sind gezĂ€hlt. Oben auf 670 Meter, der höchsten Erhebung der Insel, liegen 99 Franzosen begraben, Opfer einer Choleraepidemie, die nur einer der einhundert stationierten Franzosen ĂŒberlebte. Ampangorina besteht aus wenigen gemauerten HĂ€usern, die ĂŒberwiegend von EuropĂ€ern bewohnt werden, sowie einigen Dutzend BretterverschlĂ€gen ohne TĂŒr oder Fenster. Wer sein Dach mit Wellblech ausstattet gehört schon zu den GlĂŒcklicheren und schĂŒtzt es durch groĂe Wackersteine vor dem Wind und den Nachbarn. Im Ăbrigen werden die HĂŒtten in Handarbeit aus der Ravenala Madagaskariensis, dem âtravellers treeâ gefertigt, die Grundkonstruktion aus den StĂ€mmen, die DĂ€cher aus den BlĂ€ttern. Ein neues Dach wird alle sieben Jahre fĂ€llig. Wir MitteleuropĂ€er sind erst einmal erschlagen von der scheinbaren Armut, die uns unterkommt – Kinder, die selbst Kinder haben tragen diese schreiend vor sich her, als wir zwischen den improvisierten Abfalleimern mit HĂŒhnerfedern und sonstigem Allerlei durch die sandigen Hinterhöfe gefĂŒhrt werden. Man hockt auf dem Boden und rasiert sich gegenseitig den SchĂ€del oder hĂ€lt Siesta. Ăber einige HauptstĂ€dter, die auf den Lehmböden liegen, stolpern wir fast. HĂŒhner- und Entenfamilien kreuzen unseren Weg. Hie und da wird ein rostiger Topf geschrubbt und die Alten vor den HĂŒtten sehen uns kauend und missmutig nach.
Von Armut keine Spur, berichtet Rami, die Insel gehört zu den wohlhabenden Gebieten der Region, sogar des gesamten Landes. Hier gibt es Obst, mehr als genug fĂŒr den Eigenbedarf – es wird exportiert – Fisch en masse, der mit Handfangnetzen aus der seichten Brandung gezogen wird und frisch oder gerĂ€uchert ĂŒber die improvisierten Theken geht, auĂerdem flieĂendes Wasser fĂŒr alle, das in groĂen Rohrsystemen von den SĂŒĂwasserfĂ€llen im Zentrum der Insel zur KĂŒste geleitet wird und allen kostenlos an einzelnen Brunnen im Stadtzentrum zur VerfĂŒgung steht. Die Rohre sind in regelmĂ€Ăigen AbstĂ€nden mit Löchern versehen, in die man ein flaches Hölzchen einbringen kann, um eine sprudelnde Quelle zu erhalten. AuĂerdem gibt es hier sauberes Grundwasser, einen immergrĂŒnen Mangrovenwald und die Lemuren, die eine weitere ĂŒberlebenswichtige Spezies anlocken – uns. Wir stellen einen entscheidenden Wirtschaftsfaktor dar und werden daher bedĂ€chtig an den, in der gleiĂenden Sonne feilgebotenen, handbestickten Tischdecken und geschnitzten Minilemuren vorbeigefĂŒhrt. Wir sollen bitte handeln macht Rami klar:
âIci, tout est disponible, tout est discutable au Madagascar.â Wir kaufen zwei Krötendecken und Minilemuren fĂŒr zu Hause, die wir spĂ€ter abholen wollen, wir sind hier ja wirklich leicht wiederzuerkennen.
Mario fischt etwas aus einem gemauerten Bassin, als wir auf dem RĂŒckweg mal wieder auf Massimo warten mĂŒssen. Aha, eine Boa. Als sie lĂ€ngst um meinen Hals baumelt erfahre ich dann, dass es auf Madagaskar keine Giftschlangen gibt. Ein beruhigender Gedanke.
Im Nachmittag stapfen wir durch die seichte Brandung zurĂŒck zum Boot. Der Indische Ozean ist an den StrĂ€nden von Tsarabanjina nur einer moderaten Tide unterworfen, die tĂ€glich an einem Holzbrettchen angeschlagen wird. Auf unserer dringenden Suche nach Wasserschildkröten stolpern wir auf dem Weg zum SĂŒdstrand fast ĂŒber ein Landschildkrötenbaby, das unsere Begeisterung nur bedingt teilt.
Am Strand sehen wir uns mit einem der Grundprobleme des Schnorchelns konfrontiert: Meine Frau wird nur am RĂŒcken braun! Wir starten Versuche des inversen Schnorchelns aber aspirieren hĂ€ufig, also quasi bei jedem Atemzug. Also probieren wir es doch wieder mit dem Gesicht nach unten.
Nachdem wir uns mit der Strömung zur presque Ăźle haben treiben lassen, gestaltet sich die RĂŒckkehr gegen die âundertowâ einigermaĂen schwierig. Wir wollen schon aufgeben, als meiner Frau doch noch ein verdĂ€chtig stark gemusterter Stein ins Auge fĂ€llt, der sich auf vier Flossen davonmacht. FĂŒr ein kurzes Fotoshooting im âfish modeâ verweilt die Wasserschildkröte dann doch noch in unserer NĂ€he, bevor sie wieder die Weiten des Riffs aufsucht.
Ein letztes Mal ĂŒberlĂ€uft der von Inseln gesĂ€umte Horizont den glutroten Koloss wie eine Ahnung aus einer fernen Zeit und wir mit ihm. Der indische Ozean spĂŒlt rhythmische SĂ€ume der Gleichmut ĂŒber unsere FĂŒĂe, die den moskitogeschundenen Ăberresten eines Axt-Gadermann-Kaninchens Ă€hneln. Hauttyp 3 ist Geschichte, ebenso wie Opferdollars und Lemurenkot, Buckelrinder, MeeresbĂ€der und fantastische SonnenuntergĂ€nge, dann sind wir wieder gerne zu Hause – andere Vögel, andere Affen, dieselbe Sonne.
In Paris wird zwar unser GepĂ€ck problemlos weitergeleitet, wir aber nicht, jedenfalls bekommen wir ums Verrecken keinen Boardingpass. Mit ein wenig mora mora lĂ€sst sich aber auch der organisieren. Wir kommen wohlbehalten in Frankfurt an und auf dem Nachhauseweg liegt – na was wohl – Schnee.
Zuhause angekommen, fallen wir in den tiefen Schlaf eines tropischen Delir. An uns vorbei ziehen karottensafttrinkende Makis, die nach Ylang-Ylang duften und mit einer Herde ZebukĂ€lbchen vor der immer noch belegten 7 warten, Air Austral Mitarbeiter mit Hauttyp 3, die umherrennen wie aufgescheuchte StrandlĂ€ufer, wandelnde Seelen von SuizidchamĂ€leons mit unserem Pass, die ein pâtit cadeau gegen Post-its in Pink und GrĂŒn tauschen, das Axt-Gadermann-Kaninchen, welches sich mit einer Wasserschildkröte paart (ziemlich sicher fady) – und irgendwo auf einer kleinen Insel streicht ein junger Mann zwei weitere Quadratmeter Wand
Vielen Dank Herr Schlimmer fĂŒr diesen sehr amĂŒsanten und wirklichkeitsnahen Reisebericht! Ich hab ihn mit ein paar Bildern dekoriert und hoffe, dass Sie damit einverstanden sind!
FĂŒr alle Leser die sich das VergnĂŒgen gegönnt haben diese Reise nachzuvollziehen: man kann Madagaskar auch ohne Anreiseprobleme erreichen! Und eines ist sicher: wer nach Madagaskar gereist ist, hat etwas zu erzĂ€hlen.
Wolfgang.Daerr
Vielen Dank Herr Schlimmer fĂŒr diesen sehr amĂŒsanten und wirklichkeitsnahen Reisebericht! Ich hab ihn mit ein paar Bildern dekoriert und hoffe, dass Sie damit einverstanden sind!
FĂŒr alle Leser die sich das VergnĂŒgen gegönnt haben diese Reise nachzuvollziehen: man kann Madagaskar auch ohne Anreiseprobleme erreichen! Und eines ist sicher: wer nach Madagaskar gereist ist, hat etwas zu erzĂ€hlen.